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Platon hat das Symposion etwa dreißig Jahre nach dem Siege des
Agathon, etwa fünfzehn Jahre nach dem Tode des Sokrates geschrieben,
um das Jahr 385, als die Akademie seit drei Jahren bestand. Schon da-
mals liefen über die Person des Sokrates Märchen um, die von beflisse-
nen Leuten gesammelt wurden. Im Rahmengespräch, das auf dem Wege
vom Phaleron nach Athen spielt und das wir uns nicht lange vor dem
Prozeß des Sokrates zu denken haben, wird auf die Unzuverlässigkeit
solcher Nachrichten hingewiesen, indem ihre Urheber, übereifrige Adep-
ten des Meisters, karikiert werden. Es war die selbe Zeit, in der schon
Schlimmeres im Gange war: Anytos und Genossen brachten Sokrates in
den Ruf, er sei sozial ein Schädling, religiös ein Staatsfeind, pädago-
gisch ein Verderber. Sogleich bei der Begegnung des Aristodemos mit
Sokrates, die den Reden des Symposions präludiert, spüren wir das
eigentümliche Fluidum der Prosakomödie: Sokrates hat sich „schön“ ge-
macht, um zum Schönen zu gehen; er spielt mit Homerzitaten, die er
seiner Ironie nutzbar macht; in seiner Erscheinung wirkt die Atopie, in
seiner Haltung (orcan^ und das Kontemplative seines Wesens.
Indem Platon mit dem Symposion einen ganz neuen Weg der Szenerie41 42
betritt, wendet er sich noch einmal zum Stilcharakter seiner Erstlings-
werke zurück, jener Komödien in Prosa, mit denen er seineZo/oi Twz(>cmxoZ
begonnen hatte. Die Fülle der mehr oder weniger verhüllten Anspielun-
gen gehört zu dem, was das Symposion der Gattung der Komödie an-
nähert und es als Gegenstück zur Tragödie des Phaidon erscheinen läßt.
Die Beziehung dieser beiden, wahrscheinlich gleichzeitigen und einander
ergänzenden 12 Werke hat ihren Höhepunkt in den Worten, wo Sokrates
Agathon und Äristophanes einzugestehen nötigt, daß der selbige Mann
verstehen müsse, Komödie und Tragödie zu dichten. Mit dieser Harmonie
der Gegensätze schließt das Symposion ab und weist damit auf das
Tiefste in Platons eigenem Erleben hin: Ihm war im Sterben des Sokra-
tes der Sinn dieses atopischen Lebens offenbar geworden. Was den Än-
deren als Unform erschienen war, zeigte ihm den Weg, um der Philoso-
phie selber auf Erden in menschlicher Rede lebendige Form zu geben.
41 Redekampf bei Trinkgelage war herkömmlich, die Sieben durch die Zahl
der „Weisen“ vielleicht geläufig. Aber literarische Vorbilder für die Form des
Reihengesprächs beim Trinkgelage scheint Platon nicht gehabt zu haben. Er
wählte diese Form (vgl. Gesetze I über das Erzieherische bei „Trinkgelagen,
wenn sie die richtige Form erhalten“), als er die Beziehung zwischen Psyche und
Noesis aufweisen wollte, also zwischen Philosophie als dem Göttlichsten im
Menschen und Eros als dem Menschlichsten unter den Göttern.
42 Schon D. Wyttenbach, Convivium et Phaedo (1810) XVI, urteilte: illud
comoediae, hic tragoediae finitimus.
Platon hat das Symposion etwa dreißig Jahre nach dem Siege des
Agathon, etwa fünfzehn Jahre nach dem Tode des Sokrates geschrieben,
um das Jahr 385, als die Akademie seit drei Jahren bestand. Schon da-
mals liefen über die Person des Sokrates Märchen um, die von beflisse-
nen Leuten gesammelt wurden. Im Rahmengespräch, das auf dem Wege
vom Phaleron nach Athen spielt und das wir uns nicht lange vor dem
Prozeß des Sokrates zu denken haben, wird auf die Unzuverlässigkeit
solcher Nachrichten hingewiesen, indem ihre Urheber, übereifrige Adep-
ten des Meisters, karikiert werden. Es war die selbe Zeit, in der schon
Schlimmeres im Gange war: Anytos und Genossen brachten Sokrates in
den Ruf, er sei sozial ein Schädling, religiös ein Staatsfeind, pädago-
gisch ein Verderber. Sogleich bei der Begegnung des Aristodemos mit
Sokrates, die den Reden des Symposions präludiert, spüren wir das
eigentümliche Fluidum der Prosakomödie: Sokrates hat sich „schön“ ge-
macht, um zum Schönen zu gehen; er spielt mit Homerzitaten, die er
seiner Ironie nutzbar macht; in seiner Erscheinung wirkt die Atopie, in
seiner Haltung (orcan^ und das Kontemplative seines Wesens.
Indem Platon mit dem Symposion einen ganz neuen Weg der Szenerie41 42
betritt, wendet er sich noch einmal zum Stilcharakter seiner Erstlings-
werke zurück, jener Komödien in Prosa, mit denen er seineZo/oi Twz(>cmxoZ
begonnen hatte. Die Fülle der mehr oder weniger verhüllten Anspielun-
gen gehört zu dem, was das Symposion der Gattung der Komödie an-
nähert und es als Gegenstück zur Tragödie des Phaidon erscheinen läßt.
Die Beziehung dieser beiden, wahrscheinlich gleichzeitigen und einander
ergänzenden 12 Werke hat ihren Höhepunkt in den Worten, wo Sokrates
Agathon und Äristophanes einzugestehen nötigt, daß der selbige Mann
verstehen müsse, Komödie und Tragödie zu dichten. Mit dieser Harmonie
der Gegensätze schließt das Symposion ab und weist damit auf das
Tiefste in Platons eigenem Erleben hin: Ihm war im Sterben des Sokra-
tes der Sinn dieses atopischen Lebens offenbar geworden. Was den Än-
deren als Unform erschienen war, zeigte ihm den Weg, um der Philoso-
phie selber auf Erden in menschlicher Rede lebendige Form zu geben.
41 Redekampf bei Trinkgelage war herkömmlich, die Sieben durch die Zahl
der „Weisen“ vielleicht geläufig. Aber literarische Vorbilder für die Form des
Reihengesprächs beim Trinkgelage scheint Platon nicht gehabt zu haben. Er
wählte diese Form (vgl. Gesetze I über das Erzieherische bei „Trinkgelagen,
wenn sie die richtige Form erhalten“), als er die Beziehung zwischen Psyche und
Noesis aufweisen wollte, also zwischen Philosophie als dem Göttlichsten im
Menschen und Eros als dem Menschlichsten unter den Göttern.
42 Schon D. Wyttenbach, Convivium et Phaedo (1810) XVI, urteilte: illud
comoediae, hic tragoediae finitimus.