- 5
zugefügten Beleidigungen und kennt nichts anderes mehr, als dagegen zu
schlagen:
„swie gerne ichz vriden wolde, der künec entuot es niht,
wände er der sinen leide ie mer und mere gesiht.“ (2136/3—4)
Das perfektivierende Präfix „ge“ in „gesiht“ bringt rein sprachlich dieses
stetig wachsende Sich-Bewußtmachen und Sich-Bewußthalten der erlittenen
eigenen Unbilden zum Ausdruck.
Im Blick auf diese Konstante des Ewig-Menschlichen haben Mell und
Schäfer das Nl.thema aufgegriffen, Mell wesentlich auf das NI. selbst sich
stützend0, Schäfer mit zusätzlicher Verwertung eddischer Motive, dabei
aber nicht einfach Nibelungisches und Eddisches kombinierend, sondern
den herangezogenen Stoff seinen ganz eigenen Visionen anverwandelnd'.
Bedenkt man, daß das NI. rein stofflich, mit den „alten maeren“, die sei-
nen Inhalt ausmachen, durchaus nicht als aktuell anzusprechen ist, so muß
seine außerordentliche Fortwirkung in der neueren Dichtung gewiß ver-
wundern. In der Tat hat keine zweite Dichtung des Mittelalters eine gleiche
Unsterblichkeit erlangt. Durch dieses Lebendigbleiben aus eigener innerer
Kraft erweist es seinen Rang als zeitlos große Dichtung. Und große Dich-
tung kann deshalb zeitlose Wirkung üben, weil aus ihr, wie A. Daur gesagt
hat, „immer neu und unverbraucht des Lebens Bilder, seine unvergänglichen
Gestalten“ steigen6 7 8. „Wer wollte ihrer entraten, solange der Mensch in der
Mitte seiner Welt steht!“ Sich ihrer zu bemächtigen, ist nicht nur eine wis-
senschaftliche Aufgabe, sondern auch ein zutiefst menschliches Anliegen,
eine Forderung echter humanitas. Daß in der großen Poesie „das Bild des
jeweiligen Ewigen in den Völkern“, ein zugleich Transzendierendes und
Dauerndes also, sichtbar wird, hat J. Burckhardt pietätvoll anerkannt. Und
schon immer galten die großen Dichter mit Recht als Seher, in deren be-
drängenden Gesichten die Welt der menschlichen Dinge wie in einem Spie-
gel schaubar wird. Daß daher ihre Werke der „Menschheit in ihrem inneren,
in allen Erscheinungen und Entwicklungen identischen Wesen ein viel
treueres und deutlicheres Bild vorhalten, als es die Historiker vermögen“,
hat auch Schopenhauer nachdrücklich betont. Schaffen sie doch ewig gültige
6 Vgl. H. Brinkmanns Würdigung von Melis Nibelungentragödie in Wirkendes Wort
3. Jg. 1952/53 S. 224 ff.
7 Es besteht Ursache, auf diesen erst jetzt bekannt werdenden, früh verstorbenen
Dramatiker hinzuweisen, der durch Maurice Boucher (Sorbonne Paris), Hermann Fried-
mann, Rudolf Jancke, Gerhard Schälte u. a. als ein Dichter von außerordentlicher Gestal-
tungskraft, ja, als ein deutscher Shakespeare, gerühmt worden ist. Unbestreitbar ist die
dichterische Potenz Schäfers, die fast erdrückende Fülle seiner gestaltenden Phantasie, die
außerordentliche Bildkraft seiner Sprache und nicht zuletzt die magisch zu nennende
Virtuosität im Gebrauch des Reimes.
8 A. Daur, Der Weg zur Dichtung, München 1933, S. 7.
zugefügten Beleidigungen und kennt nichts anderes mehr, als dagegen zu
schlagen:
„swie gerne ichz vriden wolde, der künec entuot es niht,
wände er der sinen leide ie mer und mere gesiht.“ (2136/3—4)
Das perfektivierende Präfix „ge“ in „gesiht“ bringt rein sprachlich dieses
stetig wachsende Sich-Bewußtmachen und Sich-Bewußthalten der erlittenen
eigenen Unbilden zum Ausdruck.
Im Blick auf diese Konstante des Ewig-Menschlichen haben Mell und
Schäfer das Nl.thema aufgegriffen, Mell wesentlich auf das NI. selbst sich
stützend0, Schäfer mit zusätzlicher Verwertung eddischer Motive, dabei
aber nicht einfach Nibelungisches und Eddisches kombinierend, sondern
den herangezogenen Stoff seinen ganz eigenen Visionen anverwandelnd'.
Bedenkt man, daß das NI. rein stofflich, mit den „alten maeren“, die sei-
nen Inhalt ausmachen, durchaus nicht als aktuell anzusprechen ist, so muß
seine außerordentliche Fortwirkung in der neueren Dichtung gewiß ver-
wundern. In der Tat hat keine zweite Dichtung des Mittelalters eine gleiche
Unsterblichkeit erlangt. Durch dieses Lebendigbleiben aus eigener innerer
Kraft erweist es seinen Rang als zeitlos große Dichtung. Und große Dich-
tung kann deshalb zeitlose Wirkung üben, weil aus ihr, wie A. Daur gesagt
hat, „immer neu und unverbraucht des Lebens Bilder, seine unvergänglichen
Gestalten“ steigen6 7 8. „Wer wollte ihrer entraten, solange der Mensch in der
Mitte seiner Welt steht!“ Sich ihrer zu bemächtigen, ist nicht nur eine wis-
senschaftliche Aufgabe, sondern auch ein zutiefst menschliches Anliegen,
eine Forderung echter humanitas. Daß in der großen Poesie „das Bild des
jeweiligen Ewigen in den Völkern“, ein zugleich Transzendierendes und
Dauerndes also, sichtbar wird, hat J. Burckhardt pietätvoll anerkannt. Und
schon immer galten die großen Dichter mit Recht als Seher, in deren be-
drängenden Gesichten die Welt der menschlichen Dinge wie in einem Spie-
gel schaubar wird. Daß daher ihre Werke der „Menschheit in ihrem inneren,
in allen Erscheinungen und Entwicklungen identischen Wesen ein viel
treueres und deutlicheres Bild vorhalten, als es die Historiker vermögen“,
hat auch Schopenhauer nachdrücklich betont. Schaffen sie doch ewig gültige
6 Vgl. H. Brinkmanns Würdigung von Melis Nibelungentragödie in Wirkendes Wort
3. Jg. 1952/53 S. 224 ff.
7 Es besteht Ursache, auf diesen erst jetzt bekannt werdenden, früh verstorbenen
Dramatiker hinzuweisen, der durch Maurice Boucher (Sorbonne Paris), Hermann Fried-
mann, Rudolf Jancke, Gerhard Schälte u. a. als ein Dichter von außerordentlicher Gestal-
tungskraft, ja, als ein deutscher Shakespeare, gerühmt worden ist. Unbestreitbar ist die
dichterische Potenz Schäfers, die fast erdrückende Fülle seiner gestaltenden Phantasie, die
außerordentliche Bildkraft seiner Sprache und nicht zuletzt die magisch zu nennende
Virtuosität im Gebrauch des Reimes.
8 A. Daur, Der Weg zur Dichtung, München 1933, S. 7.