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Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Editor]; Assmann, Jan [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0372
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Kreativität - Psychodynamik und Coaching 365

wie ernsthaft seine Selbstmordgedanken als junger Student in Leipzig gewe-
sen sind oder wie groß die Verzweiflung war, als er im besten Mannesalter
von vierzig Jahren seinen Tasso schrieb. Es zeigt aber eine Leidensbereit-
schaft, die, wenn sie ertragen wird, ein wesentlicher Ansporn zur Kreativität
ist. Goethe spricht in seinen dramatischen Gestalten auch von sich selbst,
von Gefühlen des Ausgeschlossen-Seins, der drohenden Vereinsamung des
Kreativen, nicht von „fieberhaften Anfällen", sondern von einer ständigen
Krankheit, die ihn zur Dichtung treibt (s. Friedenthal S. 298). Erst dadurch,
dass er wie im Werther den Schmerz tief auskostet und begreift, wird er ge-
heilt; erst durch das volle Erleben des Leidens erlangt er in kritischen Le-
bensphase eine »höhere Gesundheit'.

Der Kampf ums Überleben beginnt mit der Geburt. Für Goethe noch
dramatischer als ohnedies, weil er so gut wie leblos zur Welt kam, „ganz
schwarz", wie seine Mutter berichtete. Klingt hier schon der in Krisen ge-
stärkte Lebenswille von .Selige Sehnsucht' an? Dieses Gedicht aus dem West-
östlichen Divan stellt uns Tod und Untergang als Wiedergeburt zu einem
höheren Leben dar. Dies ist nicht nur eine metaphysische Vorstellung, son-
dern beschreibt das alltägliche Erleben von Werden und Vergehen, Tag und
Nacht, Liebe und Einsamkeit, Anspannung und Entspannung:

Selige Sehnsucht

Sag es niemand, nur den Weisen
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebendge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig
Kommst geflogen und gebannt
Und zuletzt des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und solang du dies nicht hast,
Dieses: stirb und werde!
Bist Du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
 
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