Kapitel 8
Geschichtlichkeit und Normativität
alttestamentlicher Anthropologie
Multiperspektivische Menschenbilder in der Biblia
Hebraica und ihre Bedeutung für die Gegenwart -
dargestellt am Fallbeispiel David
Manfred Oeming
1. Das Problem: Wie verhalten sich Geschichtlichkeit
und Normativität theologischer Anthropologie in
alttestamentlicher Perspektive zueinander?
„Es gibt keine Politik ohne eine vorherige - ausgesprochene oder unausgesproche-
ne - Festlegung auf ein Menschenbild. Wer als Christ an politischen Entscheidun-
gen teilnimmt, hat sich zuvor auf ein bestimmtes Menschenbild festgelegt. Es ist
das christliche Menschenbild, das nicht nur die Mütter und Väter unserer Verfas-
sung sich zu eigen gemacht haben. Dieses Bild vom Menschen hat wie kein anderes
die europäische Kultur über zwei Jahrtausende hinweg geprägt. Jüdische, antike
und vor allem christliche Einflüsse haben ein Bild vom Menschen gezeichnet, das
weltweit als einmalig und einzigartig gelten darf. Im Mittelpunkt dieses Menschen-
bildes steht die Überzeugung von der Unantastbarkeit seiner Würde. Es ist dies eine
jedem Menschen in gleicher Weise zugesprochene Würde, ganz unabhängig von
physischer oder psychischer Leistungskraft, Befindlichkeiten, Hautfarbe, Herkunft,
Einkommen, körperlicher Verfassung und geistigen Fähigkeiten. Würde und Ge-
rechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille."1
Die Frage nach dem Menschen hat erkennbar eine hohe gesellschaftspolitische
Bedeutung. Dabei ist auffällig, dass gerade im Bereich politischer Debatten sehr oft
der Singular „das christliche Menschenbild" verwendet wird. Das christliche Men-
schenbild gilt als Ursprungsort ethischer Normativität2 und es wird so angeführt,,
als ob es so klar und so eindeutig zu erheben wäre, dass man damit ein höchstes
1 Programmheft für politische Bildung, Bildungswerk der Katholischen Arbeitnehmer-Bewe-
gung Essen, 2008, Das Werk der Gerechtigkeit, S. 13.
2 Vgl. J. Pieper, Über das christliche Menschenbild, Leipzig 1936, 7. Aufl. München 1964.
M. Oeming (El)
Wissenschaftlich-theologisches Seminar, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: manfred.oeming@wts.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder,
DOI 10.1007/978-3-642-16361 -6 8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Geschichtlichkeit und Normativität
alttestamentlicher Anthropologie
Multiperspektivische Menschenbilder in der Biblia
Hebraica und ihre Bedeutung für die Gegenwart -
dargestellt am Fallbeispiel David
Manfred Oeming
1. Das Problem: Wie verhalten sich Geschichtlichkeit
und Normativität theologischer Anthropologie in
alttestamentlicher Perspektive zueinander?
„Es gibt keine Politik ohne eine vorherige - ausgesprochene oder unausgesproche-
ne - Festlegung auf ein Menschenbild. Wer als Christ an politischen Entscheidun-
gen teilnimmt, hat sich zuvor auf ein bestimmtes Menschenbild festgelegt. Es ist
das christliche Menschenbild, das nicht nur die Mütter und Väter unserer Verfas-
sung sich zu eigen gemacht haben. Dieses Bild vom Menschen hat wie kein anderes
die europäische Kultur über zwei Jahrtausende hinweg geprägt. Jüdische, antike
und vor allem christliche Einflüsse haben ein Bild vom Menschen gezeichnet, das
weltweit als einmalig und einzigartig gelten darf. Im Mittelpunkt dieses Menschen-
bildes steht die Überzeugung von der Unantastbarkeit seiner Würde. Es ist dies eine
jedem Menschen in gleicher Weise zugesprochene Würde, ganz unabhängig von
physischer oder psychischer Leistungskraft, Befindlichkeiten, Hautfarbe, Herkunft,
Einkommen, körperlicher Verfassung und geistigen Fähigkeiten. Würde und Ge-
rechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille."1
Die Frage nach dem Menschen hat erkennbar eine hohe gesellschaftspolitische
Bedeutung. Dabei ist auffällig, dass gerade im Bereich politischer Debatten sehr oft
der Singular „das christliche Menschenbild" verwendet wird. Das christliche Men-
schenbild gilt als Ursprungsort ethischer Normativität2 und es wird so angeführt,,
als ob es so klar und so eindeutig zu erheben wäre, dass man damit ein höchstes
1 Programmheft für politische Bildung, Bildungswerk der Katholischen Arbeitnehmer-Bewe-
gung Essen, 2008, Das Werk der Gerechtigkeit, S. 13.
2 Vgl. J. Pieper, Über das christliche Menschenbild, Leipzig 1936, 7. Aufl. München 1964.
M. Oeming (El)
Wissenschaftlich-theologisches Seminar, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: manfred.oeming@wts.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder,
DOI 10.1007/978-3-642-16361 -6 8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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