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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 61 - Nr. 69 (2. August - 30. August)
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Nr. 69.

Mittwoch, den 30. Auguſt 1871.

4. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4
„und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

— —

Der Sohn des Millionärs.
(Fortſetzung.)

Man ſetzte ſich zu Tiſche. Madame Audriet und

der Abbͤ Reßen es ſich angelegen ſein, durch die That

zu beweiſen, wie ſehr ſie der Güte der aufgetragenen

Gerichte Gerechtigkeit widerfahren ließen; der letztere

indeß verſtand ſich darauf, auch während dem eifrig-
lter Eſſen die Geſellſchaft nicht aus dem Auge zu ver-⸗
lieren.
Tellern auf und machte die Honneurs ihres Diner mit
einem großen Aufwande von Worten. Was den jun⸗—
gen Pariſer anbelangt, ſo langweilte er ſich ſehr und
fand die Pflichten der Höflichkeit in der Provinz et⸗—
was ſchwer zu erfüllen. Er ſprach wenig und, wie es
ſchien, zerſtreut, und wendete dem Fräulein Firmin,
die ihren Platz ihm gegenüber angewieſen bekommen
hatte, auch nicht einen Blick zu. Die gänzliche Nicht-
beachtung von Seiten desjenigen, deſſen Herz ſie mit
Sturm erobern ſollte, verurſachte ihr eine wahrhafte
Kränkung; dazu kam noch die Befürchtung, ſie werde
wegen des geringen Eindrucks, den ſie machte, zu Hauſe
geſcholten und beſtraft werden, und dieſe Furcht trieb
ihr ein Thränchen in die Augen; ſie bückte den Kopf
nieder, und, ſei es nun, um freier aufzuathmen, oder
gab es ihr die Koketterie ein, legte zugleich mit ihrem
großen Roſahute eine ponceaurothe Schärpe ab. Nach
dem Verſchwinden dieſes geſchmackloſen, unvortheilhaf-
ten Theiles ihrer Toilette wurden an Juliette ein recht
hühſches Geſichtchen und all die Reize eines Mädchens
von achtzehn Jahren ſichtbar. Dieſer kleine Theater⸗—
ſtreich zog die Aufmerkſamkeit aller Gäſte auf ſich und
verurſachte eine leichte Veränderung in der Phyſiog-
nomie des jungen Fremden; ſeine bisher zerſtreut ge-
weſenen Blicke nahmen von Zeit zu Zeit eine Richtung,
die das Herz der Madame Firmin freudig ſchlagen
machte, und ſie dachte bei ſich Kommt der Sieg auch
ſpät, ſo iſt er doch entſcheidend, und der Millionärs-
ſohn iſt gewonnen! 2—
Nachdem die Gäſte wenigſtens fünfzehn Deſſert-
ſchüſſeln hatten auftragen ſehen, was Madame Des-
champs in der doppelten Abſicht that, ſich in ihrem
Glanze ſehen zu laſſen, und Madame Firmin wegen
ihres geſtrigen Anerbietens zu beſchämen, erhoben ſie
ſich und gingen, mit Ausnahme des Abbs, welcher,

lein. ö
min zur Pflicht, die Unterhaltung zu führen, und ſie

Madame Deschamps ſchichtete fleißig auf den

Amtsgeſchäfte vorſchützend, ſich entfernte und der Ma-
dame Audriet, welche ein Schläfchen machte, in den
Garten. ö
Die Herrin des Hauſes ließ nach einigen Minuten
die Mutter und Tochter mit dem jungen Fremden al-
Dieſe Abweſenheit machte es der Madame Fir-

ließ geſchickt in den Strom ihrer Worte drei wichtige
Bemerkungen einfließen, nämlich, daß Juliette eine
fertige Klavierſpielerin ſei, daß ſie italieniſch eben ſo
geläuſig leſe, als franzöſich, und Verſe deklamire zum
Entzücken. Bei mehr als eiuer Gelegenheit hatte das
junge Mädchen, ohne ſehr verlegen zu werden, die
verſchwenderich ertheilten Lobeserhebungen ihrer Mut-
ter mit anhören müſſen; aber diesmal wurde ſie im
ganzen Geſichte roth und empfand eine Vewegung, die
ſie ſich nicht zu erklären vermochte. Um nicht weiter
davon zu hören, blieb ſie mitten in einem Gange al-
lein vor einem blühenden Roſenſtrauche ſtehen, deſſen
Blumen ſie mit ſolcher Zerſtreutheit entblätterte, daß
ſie ſich einen Dorn in den Finger ſtach. Sie ſtieß ei-
nen leichten Schrei aus, und in demſelben Augenblicke
faßte ſie Jemand, den ſie in der Zerſtreuung nicht hatte
kommen hören, vertraulich um den Leibz es war Ma-
dame Deschamps, die ganz athemlos aus dem Hauſe
zurückkehrte, wo ſie Alles wieder in Ordnung gebracht
hatte: Ei, ei, ſagte ſie, wenn Du Dich in die Finger
ſtichſt, ſo wirſt Du nicht auf dem Pianoforte ſpielen
können; und einige Schritte gegen Raymond thuend,
der eben näher trat: Mein Herr, ganz gewiß ſind Sie
ein Freund von Muſik. Hier ſtelle ich Ihnen eine
Virtuoſin vor, die Sie alsdann hören ſollen. — Ach,
ich kann gar nichts, ſagte Juliette, die Augen nieder-
ſchlagend und ſtotterud wie eine Penſionärin. Ihre
Mutter knipp ſie voller Zorn in die Arme, ohne ihre
lachende und ceremonidſe Phyſiognomie im Geringſten
zu verändern. Das junge Mädchen ſchwieg und folgte
der Geſellſchaft mit williger Miene in den Salon. —
Was wirſt Du uns vorſpielen? ſagte Madame Firmin,
indem ſie das Pianoforte von den Lumpen befreite,
mit denen es bedeckt war; was wirſt Du uns vorſpie-⸗
len, liebes Kind? die Wahl iſt allerdings ſchwer. Du
könnteſt den Aufang mit einer Phantaſie, von Herz,
machen und uns dann etwas vou Beethoven und Roſ-
ſini zum Beſten geben. Juliette blickte ihre Mutter
betroffen an und blieb zitternd vor dem offenen Pia-
noforte ſtehen. — Wohlan, ſchnell, ſagte Madame Des-
champs, indem ſie eine Katze auf den Schoos und die
 
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