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Heidelberger Zeitung (61) — 1919 (Juli bis August)

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Nr. 149-175 (1. Juli 1919 - 31. Juli 1919) ohne Nr. 166
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Donnerstag, den 17. Iuli 1919

Heidelberger Seitung - Nr. 163

Neilage

Nationalversammlung

Weimar. 16. Zuli.

Die Ve r f 2 s s u n g s b er a t u n g wird bei
Artikel 113

Todesstrafe

fortMsetzt. Es lieat ein Antraa Auer (Soz.) u.
Genossen vor auf Einfügung des Artikel 113a:
Die Todesstrafe i st abaeschafft. Mit
der Beratmig dieses Artikols verblndet der Präsi-
den die Beratung übrr einen unaMänaiaen Antrag
zuin Artikcl 11' desselben Inhalts.

Aba. Dr. Sinsheimer (Soz.): Die AbMffung
der Todesstrafe N eine alte srorderung sreiheit-
licher Gesrnnung. Es ist Auifgabe des Staatcs.
die Mistachlung des m-enschlicheii Lobens M befoi-
liaeu. Er »mh deu Grund:>atz pvaktisch vertretcn.
dah das Menschenleben an sich unvevlehlich ist.
Heute W der richtige Auaenblick fllr die Verwtrk-
lichuna der alteu svorderung gekoininen.

Regierungskommissar Dr. Preuf;: Zch bitte
die Abschaffung dex Tvdesstrcvse nicht in die Ver-
sassung aufzunehmsn. darllber wird in der unbe-
dinat irotwendiLen Neform des Strafrechts ent-
schioden wevden müssen. Zch glaube. das; die
Enisck>eidung llber die Todesstrafe Äveifellos i,n
Smne des Antragstellers evfo'.gen wird.

Abg. Diirinaer iD. N.): Die besten Thoo>retiker
und Pvrkiiker haben sich für die B c l b c h a l t u n g
der Todesstvafe aasaesprochsn. Me Fraae aehvrt
anch nicht in die Verfassuna. Anscheinenld sind
die Anträas auch nur a«us parteüpolitischen Erün-
den aostellt worden. Die ü'berwieLende l»Nohrheit
des doutschen Volkes ist gcaen eine Annahme.
(Unriche und Lärm links).

Abg. 'Dr. Kahl (D. Bpt.): Der Antrag ist zwei-
fellos vam Idealismns o'engeiiQMimen. aber Ort
und Zeit fllr 'hu ist nrcht richlia gewähtt. Nichl
bloh die bekanntesten. sondern auch erfte Nanieu
limseres geistiaen Lebcns halten die TodesstmfH für
unentbchrlich. Der richtigste Zortpunkt ist die
Reform des Strafrechts. Vei ihr wollen
imr Gründe und Eogoirgrllnde sachh.ch abwägeii.
Iri der lMtigen Zeit ist. wie invmer rrach oincim
Krieg, dre 'Krinriinalitäi gestiogen. Da lann der
Staat aegen eine bestimnite Gattung der Vevbve-
chcn auch auf diese Macht nicht verzichten.

Aög. Cohn (U. S.): Was wir boantvcvgen. ist
eün Teil der Vus;e, die das deutsche Volk sich auf-
erlesen must in ei'ner anderen Wertschähung des
menfchlichen Lebens. Ih höchsteini Mas; hcmdelt
es sich r«m eiue moralrsche und politische Irage.

Aba. Hausimaiiir (De«n.>: Wir werden um die
Verfassung rricht 'loch we'rter zu bclasten. diesen
wie alle neuen - Anträge ablehnen. Die
Frage ist eino Kulturfrase. gohört aber nicht in
die Verfassung. Diese.nfgeii habcn nicht das
Recht. Ablchuffung der Todrsstvafe ver(angen.
die fortgesetzt andieGewalt appellie-
rcn und die Handgranaten für das beste
Mittel erklären. auch drejenigen nicht. dre Gei-
seln erschiehen lassen oder Offäziere. die
ihre Bflicht tun, beim Schwimmen tatschiehen und
ertränken. ^Lärm links).

Adg. Dr. Kolhslh (D. N.): Gefühlsmomente
fprechen für die Ab'chfffung der Todesstrafe. aber
es aibt scho-n einmal Verbrechen. die nur dadurch
gosühnt werden können. dah der Devbrecher das
lehte was er hat, hergibt. sein Loben.-Gerade der
jehige Zsütpunkt der Revolution ist der ungee'ng--
aetste Mament. um die Tadicsstrafe abzu'chiffei:.
(Unruhe umd Lärm bei den Unabhängigen).

' Dex sozialdeinokratischs Antrag aus Aafhebi'lng
der Todesstvafe wird hieramf in namentlicher Ab-
stimmung bs'r zwsi Stimmentbaltuii'gen mit 164
gegen 129 Stimmen abgel-ehnl.

Artikel 117 spricht das Necht der
sreicn Mcinungsäuherung
aus und bestimmt dann weiter: Eine Zensur
sindet nicht söatt, doch können fllr Lichtspiele durch
Crset; abweichende Bostiimmiungen getroffen wer-
don. auch sind zur Betämpfuag Ider Schmuh- und
Schundliteratur, sawie zum Schuhe der Iugend bei
öfsentlichen Sch.iuspielen Und Darbietungen ge-
setstiche SNahnahmen zulässig.

Ein unabhängiger Antrag will die MägVichkeit
der ^ilmzensur d-alvnrch boseittgen. dast er nur
gesehliche cMahuahmen zum Schuhe der Iugend
lwgii den Schund in Wort Schrift und Mld. so-
wie boi öffentlichen Schaustellungen. Darbietungen
und Lichtspieleu zuläs;t.

Abg. Nuschke (Dem.): Zur Vokämpfüng der

Cntartungen roicheu dko bcstehonlden Gesehe voll-
koimnen.

Abg. Köncn (U. S.) begvündet den unabhän-
gigen Antvag. Als er am Ende seiner Reide er-
klärt. e§ haivdole sjch bei dem Antvag um eine
praktische Mahregcl im Intevesso der Jugend-
er,;iehung und wenn dieses Haus a-uch nur oinen
Imnken von Verständnis für digse wichtige Ivwge
haLe. so muf; es üiesein Avtvaa zustiininen. bsinerkt
Pkästdent I-ehrenbach. das; cr dtesses Bemerkte.
das er für seinon Toil nicht 'hinnehmen könne.
e ntschieden zurückwersen müsse.

Während der Abstimrmiiiig trat ovn Besucher
des recksten Nanges auf die Brüstuna umd roivft
eiu mostes Paket Flugiblätter und graue
Kalrton in den Saal. Es entsteht groste Unvulhe. Auf
d-en I-lugblättern steht: '.Dadaisten aegen
We i m a r". nnd auf den grauen Karton wivd die
Ankmrft des Oberdada ailgeküivdigt.

Uöber don zweiten Abschnitt der Grmrdrechte
dor das

Gemeinschastsleben

bchandelt. berichtet Ahg. Dr. Beperle (Zentr.)
Artikol 118 stellt die Ehe als Grundlage des
dc-utschei, Iamrilienlebens unter do,n Schuhe der
Derfassung und erklärt die gesunde ReinerhaltUng
und sGvale Iardcruug der Iomilie als Aufgabe
der Bevölkerungspolitik von Staat und Eemeinde.
Küirderreichc Familion haben Anispruch auf aus-
gleichende Fürsorge.

Nach Artikel l 19 ist döe Erziehlung des
Nachwuch'es Pflicht und Necht der Eltern. über
dcren Betätigung die staatltche Gomclnschaft wacht.

Dazu lvngoa versch'edene demokratische. sa.sval-
domokratrsche und .l'iabhäagige Aniräae vor. die
sich vor allein mit der Siellung dcs uneheli-
che n Kindes bcfassen. Austerdem liegt eiive
Entschliestung des Ausschusses vor. die Regierung
möge einen Gesehentwuvf oorlegen. der die recht-
liche mrd soifflale Stellung des uneholichon Kindes
in gorechter Woi.'e regelt.

«lbg. Frau Neuhaus (Zentr.): Eine Gloichstel-
lung der Ehe mit and:rcr Verbindungen würden
wir als vorhäivgiiisuosl baltm. Auch die Gleich-
stellung der unehelichen Kinder mit don ohol'ichen
goht zu woit. Gewis; solleii sts elive rechtliche und
gosehlichc Sicherhcitsstellung erhalten.

'Abs. Frau Brönncx (Dem.): Moino Fraktivn
meint. dast die Nechto dex unchelichen Kiivder
nicht m der Verfassung. sondern in einom Leson-
deren Gefet; fostaelegt wcrden sollen.

Aba. Fran G'.erke (D. N.): Wir stnd dor Me'i-
ivung. das; Ebe und Familie im Volksibewusttsevn
rhvcn bLsonderon goheiligten Platz behalten müs-
sen.

Abg. Frau Zieh U. S.): Der bisherige
Rechts.Wstand ist eiiis bittere Ungerechtig-
keit gegonüber de,n unehelichon Kinde und sev-
ner Mmtter.

Nach 'veiteren Vemerk'.ingen der Abgg. Vur-
lage (Zentr.) und Katzenstein (Soz.) Levich-
tet Abg. Kunert Ul. 2.) ausführlich über die
Aufgiabr-n des von deu Unabhängigen gcisdrdorton
ReichsMÄni.steri.uins für Volkshygieno und wird
vcmi Vizoprästdente', Haustmann wicdevholt
aus die Ueborschreitung der verabredeton Redezeit
hinge.mioson. Die Abstvnvmung wurde vortagt.

Die Opfer von Scapa Flow

Amtlich wird initgetoilt: Durch die völkerrechts-
widrigc, unmenfchliche Beschiehung dsr wshrlosen
BLsatzungrn dcr deutch n Nettungsboote Loi dcr
Vcrfenkung der KrX-gsfchisfc in. Scaoa Flow
l,rben nach den bishcrigen Ermittelungon auher
froppctterLav'stän Schumann nech das Leb n
vcrloren: der TorpLdomccfchrnist W.lh. Margraf
und die Tovpcdo-Obermachinistenmaate Friedrich
Bccke und Gustav Pa n k a t h. Alle drei gehor-
ten zur Bcsatzuimg dcs Towedobootes V 126. Die
endgültige Feststellung dcr Zahl nnd Namon der
Gctötoten, soiwie der Verwundcten ließ sich infolge
des Ausblckbens der englifchen Antwort auf die
dcutschersscits am 29. Iuni ergangcno amtliche 2kn,-
frage tr-otz aller Bemllhungen noch nicht ernvöglichen.
Dic gerett tcn Besatzungcn sind vermutlich in den
Gefarrgenonil'agern in Oswestry lbei Shrews-
bury) und Wakefield (bei Hull) interniert.

Der Prozetz Toller

Als letzter und bedeutendster der grotzen Hoch-
vorratsprozesse vor dem Münchener Standgericht
bcgann am Montag in München die Verhandlung
gegen Ernst Toller aus Samotsin in
Polen. Die Anklage besagt, Toller habe
niit anderen gemeinsam an der Ausrufung
der ersten und zweiten Räterepublik terlgenom-
men u. dadurch die Verfassung Bayerns gewaltsam
zu ändern gesucht: er habe insbesondere eine lei-
tende Tütigkeit als Führer der gegen die Negie-
rungstruppen kämpfenden Noten Garde bei Dachau
ontfaltet. Toller erzählt:

Vei Ausbruch des Krieges sei er in Paris ge-
wesen, habc sich rechtzeitig gcflüchtet. sei dann in
ein bayerisches Negiment als Kriegsfreiwilliger
eingctreten. nicht aus Begeisterung für den Kri-cg.
sondern in dem Bewusstscin. das er damals noch
gehabt hätte, es gelte einen deutschen Verteidi-
gungskrieg. Drausien habe er sich dann von dem
Eegienteil überzeugt, sei krank geworden. in Sa-
natorien gekommen und schlietzlich 1910 aus dem
Kriegsdienst entlassen worden. Jn Heidelberg
trat er 1917 in der dortigen Studentenbewegunn
hervor. Jm Ianuar 1918 beteiliate cr sich an dem
vui E'sner in München v^rbsr::re>c,r General-
strcik ?.ur Bcendigung des Krieges. kam rut ihm
i,is Gcsängnis und wiederum mit ihm 'm Oktobpr
11,8 hcraus. Seit d'.r Ncvolution spielt er in
Münche-, eine durch seine Bcredstiin'.e't, jcin:n
Fai'aüsmus und scine geistige NegU'wksit begrü-i-
ders grcsts Rolle. Er habe s«ä> h.ild ven der Nct-
wend gkeit der Räterepublik übe.czeugt. aber dunn
nicht anders gehandelt. nicht anders Hochverrat be-
gangen. wie die Monarchisten und Alldeutschen, die
jetzt noch für die Monarchie gegen die bestehcnde
Verfassung ankämpften. Die Ausrufung der ersten
Räterepublik habe er unterwegs in Nürnberg er-
fahren. Er habe dios in diesem Augenblick für das
Vcrfehltestc gehalten. was man tun konnte, und sei
als der neuerwählte Führer der Münchener Un-
abhängigen sofort umgekehrt. um zu verhindern
was sich noch vermciden lief; Das Amt eines
Volksbeauftragten hat er zweimal abgelehnt. Jn
der Nacht vom 9. zum 10. April wurde er wegen
seines Widerstandes gegen gewisse Tollheiten von
seinen eigenen L-euten verhaftet, und das
geschah ihm gegen Ende April noch einmal. So-
gle.ch habe cr ernsthafteVerhandlungen
mit der Regierung Hoffmann beginnen wollen. Er
sei entschlossen gewesen, auf jeden Fall die Näte-
republtk zu liquidieren. auch wenn die Bedkngun-
gen nicht angenominen würden. Da kain aber d'r
Putsch am Palmsonntag. und der habe alles zu-
nichte gemacht. denn die Kommunisten hätten die
Gewalt an sich geriss'n. In Dachau sei er von den
Arbeitern und Soldaten zum Führer gewählt wor-
den und er habe sich nicht der Forderung entziehen
können, an der Front der bedrohten Räterepublik
zu stehen. aber er habe Befehle ?-crrissen. wie solche.
nach denen alle Gefangenen und Offiziere erschos-
sen werden sollten. habe überall vor Ueber-
griffen gewarnt und dieGeiselnzube-
freien versucht. Den Minister Auer und den
Grafen Arco habe er in der Klinik vor dem Er-
schossenwerden gerettct. Den Bruch des Wafse'
stillstandes bei Dachau. der ihm ni't als schwerstes
Nergehen vorgeworfen wird. erklärt er damit '
das gegen seinen ausdrücklichen Befehl g.'schehcn
sei. Er habe gegen die Leute nichts inehr ausr'ch-
ten könneii. Dje bitterste Erfahrung habs er
machen müssen. als er sab. welch zweifelhafte Ele-
mente sich im Kiegsministerium in die Füb^u
einschlichen. während drautzen die Arbeiter ihnen
Kopf hinhielten. Und aus ein-c Frage des Staats-
anwalts. ob er sich denn als Führer berufen fühle,
erwiderte er. er habe sich nicht dazu gedräncff
Massen hätten ihn durch ihr Vertrauen dazu ge-
zwungen Das Schicksal der erschossenen Gs'seln
habe er aufs Tiefste beklagt. Am 30. April hielt er
den Kampf für ausgeschlossen und wahnsinnig, aber
glaubte das Recht zu haben. sich nun verbergen zu
dürfen. Als der Vorsitzende Aeutzerungen des Mi-
litärministers Schneppenhorst vorliest, in denen
gegen Judenjungen etwas losgegangen wird, er-
klärte Toller. er stamnic gcwis; von Juden ab. sei
aber nichts als Deuffcher vou jeher. Als er stcki
freiwitti gfür deu Krieg gemcldet habe, habe
man ihn nicht gefragt. ob er Jude sei. sondern a
sein Deutschtum ge^laubt und ihn dafür sterbcn

lassen wollen. Jetzt. wo er in der Nevolution
stehe, würfen gewisse Leute ihm und andeven sein
Judentum vor, während er hier und dort nicht an-
ders als wie cin guter Deutscher handle.

Die Verhandlung dürfte noch zwei Tage in An
spruch nehmen.

Aus dem w-Iiteren Verlaus der Vernehmungen
der Zeugen und Sachverständigen ist noch folgen-
des bemerkenswert: Prof. Dr. Nüdin von der
Münchner Psychiatrischen Klinik bestätigte zunächst
die früheren Gutachten andcrer Sachverständigrr.
die als zweifelsfrei erscheinen lietzen, das; Toller
der schon seit srühester Kindheit mit dcn Nerven
zu tun hatte. an hysterischen Störungen
l.tt. Hc-ute geht das Eutachten des Prof. Rüdin
dahin, daf; es sich bei Toller um eine hysterische
Persö' lichkeit handle. dast aber von ciner Geistes-
kranlheit im Sinne des Gesetzes nicht die Rede
sein könne. Er halte Tollcr für einen Mann. der
nicht in die Dinge passe. mit denen er sich beschäf-
tigt habe. Aus einer gewissen Eitelkeit heraus
habe cr sich hervorgedrängt. Die nötige Bildung
habe ihm völlig gemangelt. Er sei ein. Hysteri-
k>er l.eichten bis mittleren Grades.
aber kein ethisch defekter Mensch.

Dr. Marcuse. der Leiter der Kuranstalt in
Ebenhausen, erklärte. er könne sich der Anschau-
ung. als handle es stch um eine hysterische P?r-
sönlichkeit. nicht anschlietzen, selbst angesichts der
Belastungsmomente aus der Zeit sciner Jugend.
Ein psychiatrischer Zustand, eine Gemütsverände-
rnng im Sinne der hysterischen Labilität liege
nicht vor. Toller sei selbstbewusst. eigenwilliq und
auch unbelehrbar. Seine begrenzte Eitel-
keit trage nicht den Charakter der Pathologis an
sich, so daf; nach diesem allem der Paragraph 61
nicht in Frage komme

Profestor Max Weber. der Toller von der
HeidelbergEr Universilät her kennt. be-

zeichnet ihn als einen Menschen von ganz laute-
rem Charakter, der aber ohne Verantwortungsge-
fühl handelte. wenn auch aus reiner Eestnmmgs-
ethik heraus. Er habe den Eindruck eines jungen
Mannes gemacht der hochgradig labil war und
dabei über die Gedanken und Probleme unsercr
Zeit eine noch möglichst verworrene Anschauuna
hatte. Ohne es selbst zu wissen. habe sr stch meist
nur an die hysterischen Instinkte der Masse ge-
wandt. wobei er gefühlsmätzig weiter getragen
wurde. als sein,er eigenen Absicht entsprach. Allen
politischen Realitäten gegenüber war er welt-
frcmd.

Wie aus München mitgcteilt wird. ergaben sich
Lei den gcstrigen Zeugencrmittelungen für den An--
geklagten Toller vielfach Entlcrstungsmo-
mente. Staatsanwalt Hahn /bc«ntra!Kte gegen
Tollcr umter ZuLilligung mildernder Umstände e:ne
Festungsstrafe von sieben Jahren.

Das Urteil

Das Standgericht erkannte den Anaellagten des
vellendeten Verbrochens des Hochverrats fü '
sckiuldig und verurteilte ichn zu den gcks'tzlichcn
Mindeststr-afe von 6 Iahren Festung. AIs
mildernde Umstände wirkten, dah die ehxen
bafte Gesinnung als untadelig frstgestellt
wurde vnd im aan.zen Vewe'isverifabren sich erge
ben babe, daü Tollcr alles getan habe. um dort
wc Böses geschah, es gutzumachen.

" E'n frei-r Volks-„Führer". Das in Kon-
stanz vorhaitete Mtglied der Minchnev Rätcre-
8^1^113, Seeger, war, wie die Unterfuchung er-
goben hat, während des KrieLes wogcn Kuvpe -
l e i und Zuhälterei in ^Münchm in Unte?,-
fuchungshaft gescssen und drcimal wegen V,"t''l!gs
vorbestvciift. Bei Errichtung der Näterevrbl k in
Münchrn war eo Mitglied d>cr-WirtlchaiftSkommif-
sion; däbei hat er grobe Schiebereien in
Heeresgut verübt.

Die NcrfocksckMgen nach dcm letzten. noch nicht
eigriffenen. Ncdeführer Levin. sind bis jetzt
ergebnrslos geblieben. .Man nimnit an. das; cr
immer noch in München verborgen aurhält.

«r ES r-5>ss s ssss

)d Entschlosscnheit im Dciiken fübrt notwendig zur
^ moialischen Güte nnd moralischen Stärke. ^
^ Fichte

Oie blaue Lpur

Noman von Iulius Regis
Aus dem Schwedischen übersetzt van E. v. Kraatz
Eopz'iiLlN 1917 by Oretblein üi Lo. 0. m. b. 1i.

(14. Fvttsetznng)

Zu diescr Trauex kam noch ihr Kummer über
chre Zu.tnnft hinzu. Musste sie rhr Heim auflösen?
Mugte die Villa. die für sie allein zu grost war.
vielleicht ocrkauit w;rde:i?

Sic wüisscht'e Maurice Wall'üan herbei, damit
leine grotzen grauen Augen ihx die !nnewohc>endL
Eclasienlheit mitte'ilen konnten. Aber er war nicht

- ^"9 zwölf; sie sckllng eins. und immer

i och lie>;en thre trübeu Godanken ste mcht sinschla-
sen Ein quä.eiid'r Kopslschmerz chielt ste wach.

o ,o lange sie wachte, lies; stch dies Heer von
dedanken nicht verjagen.

Sch.'iehllch „lachte jie Licht.

".'ich will ei'i Pulver nehmen". dachte sie.
"-vaiiii merde ich schlafen."

> r,' suchte vergeblich nach der Schachtel. bis ihr
^"8 sie unten im Esssaal gebliMen soin
mw;te. Nun stand ste auf. warf einen Moagenrock
l-der öffnete leise dre Tür.

, D^utzen war alles still und finftsr.-Pauline
Schcu vor der Dunkelheit und ging
nn«* und kautlos über die teppichbelLgtc Treppe
r,er Halle hinuiiter. durch derrn arosis Fen-
8" oiii bleichcs Licht herrinf'.cl.
s. .als sie quer durch die Halle ging. benierkte
Np lähem. eisigeni Schrsck, das; die Haustüc. dir
vor einigsn Stunbrn selbit abgeschlossen und
iien^ ^ ^ hatte. nur angelrhiit stand. so daf; ste ei-
'ichii'-alen Streifen dex Steivtrcppe und des
^'eswegs gcrvahrle.

rec-^^^^vkben Sekunde sah ste noch etwas ai'de-
der Bibliothektür staivd mu dem Nücken
ülion, ""^uicmdt ein groner. breitschultriger

Sie blieb regungslos steheu. unid vndkm sie wie
hypnotisiert zn der sramden Gestalt biirüberstiarrte
überfiel sre oine Art voa Schwindel. der mit ei-
nom Kribbeln in den Fingerspitzen begann und
sich steMertq. bis alles u'n sie herum zu ta.nl.zen
schien.

„Ich träume". dackste sie.

Ia. wahrlich sie träumte. Sie träumte. das;
jene Eostalt vor der Bibliothcklilr ihres Vaters
Manier der Schulterhaltung. ihres Vaters Hal-
tuns und ihres Vaters Nacken bave. Und immer
noch stcmd sie unbeweglich und mtt dcm Dunkel
verschmolzend da.

Ein kalter Zug van der Haustür her machte
sie vom Kopf bis zum Fus; erschaucrn. starren Au-
ües tat ste. wie gegen ihren Willen gezmunge-n, oim
paax Schritte vorwärts und schike dan.n in zwet-
selnd entfetztem Toue:

„Papal"

Der Mann schrak zusammen und drehto sich mit
einsm umter'drückten Ausruf um. Einen Augoir-
Llick fchien er zu fchwanken. ehe er mit langen
gloitenden Schritten nuf sie zuikam. Als sts soin
Gostcht in dem schwachsn Licht vom Fenstor her
gewahrte, sah sie. daf; es ein Fremder mit bart-
loscm Antlitz und gl-att zurückgc.kLinmten Haaron
war. Seine Augen schMoii vor Erregung zu
glühen. Er streckte ihr mit evner morkwürdigen
Gobärde die Hände entgegieil unld näherte sich ihr
l,autlos.

Pauline wich Schritt für Schritt gogen die
Treppe zuriick, und dor Fvemde folgite rhr. Als
er nur noch wenige Schritte von ibr en-tfernt war.
sties; ste oimen gellenden Schrei aus und dvach Luf
der Treppe zuiammen.

Gleich darauf wucde es überall im Hauise hell.
Steno Beyler. Iohn Andersson und das Haus-
mü'dchen kamen herunteraestiirzi uiip mnden Pau-
line rogungslos daliogen, mie ste gefatton war.

Von dem rätfelhaften Unbeka.iiiten war nichts
zu sohen. aber die Haustüre stand noch rnvmer
offen.

14.

Maurice Wallion saf; nocb um ein Mr nachts
in der Nedaktion. obmöhl er seinen zweiten Ar-
tikel über den rätfelhaften Fall Hesselnran fertiv
h>atte. Lairgfam und bcdäctstig las er ilm noch etn-
nral durch und rauchte -c.b.i scrne Zigarette mit

Eoldmundstück.: Mit oineni Male bcgicrnn d'ce To-
lcphonklingel Skirm zu schellen.

^ Es war Steno Beyler, der in vurzen nervösen
Sätzen über das Borgefallene berichtete. Mall'ioiis
Aiugen blitzten auf.

„Deiner Kusine ist doch nichts zugestofron?" lau-
tete seim-e erste Frage.

»Nein. ste hat sich' imr sürchte.li.h erschrocken.
Das Merkwürdigste ist. dast -rn der Vibliothek und
auch smrst irichts berührt zu sein scheint. Der se-
hoiminisvolle Vesuch kam und giiig wle oln Traumi-
bvld."

»Doch nicht >o aanz Tr'au.irbild. dast er nicht die
Haustür Qivfgelasseii hätte". bemerkie der Jaurucr-
lM.

„Ia!" rief Beyler erregt. „Wie kaun ec nur
hereinsokom'neu feiu. da die Tür doch verriegelt
und auch diie Sichcrheitskette vorgelogt war? Das
rst vollkommeii unecklärlich!"

Wallion schmieg einen Augeublück.

»Ich hätte sast Lust. gloich jetzt imch Lidingö
HLnauszufahrrn." sagte dann. „aber es hat wohl
Zeit üis inorgen früch. Grüst deine Kustne i'nd
saae ihr sie möchte sich nickst heuiiiruhlgen Uc>bri-
«ens — setzte er vlötzlich hinzn - . wer mar dicser
nächtliche Gast eigeutlich nach deiner Ansicht?"

Es dcruerte eine aanze Meile. bis Beylcr ant-
wortete.

„Daf; wois; kein Mea'ch'. sagte er schliesstich
„und ich am allerweiiigsten."

„Wirklich nicht? Mir fcheint das Exempel
fiehr einfach!"

„Wie? Wallion. hast du wirllich —? Weistt
du — ?"

„Ia. aanz genau."

„Dann sag es doch!"

„Ich weis; —" crwidcrie der Detekt'vreporter
laugsain mrd lächslte dabei in sjch hinetn — „ich
woist. das; es üer andere war. Und nun gute
Nachtl"

Sechs Stunden später kam der Dagscnrir her-
aus und höachte auf der ersten Seite zwei Spal-
Len über den Fall Hesselman.

„Die Sache wird il.umer rätselhaftcr. — Un-
ser Vevichkerstatter entdeckt, dast die Mörder auf
Papiere in Doktor Hesselmans Dcstti aus waren.
— Ueborfall auf dea Bri-efträger. — Ein gehernr-
nisvolles Schrevbsii aus Eostazuela:"

So. lauteten einiM der Ueberschriften. Dann

folgte «in Boricht übsr die Tätiakeit dcs Bericht-
erstatters ^>t. W. und der Polizei. An das Gs-
rücht. dast diefe den Verbrechcrn auf der Spur sei.
knüpflen stch nachstehende Bsmerkungsn:

„Es ist evstaimlich. wolche uubostiimirten Grüi'de
diio Polizei für hinreichend hält. um Verhaftm'.-
gen vorzunehmen. Man erinnert sich unwillkür-
lich des Hamarby-Falles. Obwobl öie Bchörde
-mis wro gowöhnlich jede auch noch so einstiche A'.'(-
klürung verweigsrt. wissen w>r scihr cut. wcm imH-
gcckpürt wird. mid könn.m Ichon im Voraus
Bostiinmtheit niitteileii. dast der Detreffoi'ds u:i
d'resom Vevbrechen unuhuldig ist."

Am Schliust des Artiküls erfolgte ein Anl-ang
mit der Uoberschrist: „Nächtlicher Einbruch in dce
Villa Hesselman?"

„GerLc-e als wir diesei'. Bsr'cht in Druck g.i^-
ben, erfahren war, dast ein noues seltsames Er-
eignis vorgefallen ist". lautete dle Cinleitung und
da-u folgte oia Beri.ht über Pauline Hesselmans
i ächrlichss Abcmteuer. Wle M. W andoutete. un-
tcrlag es kelncmi Zweifel, dast es hch cruch d.es-
mal um die rätselhaften Papiere geyandelt haits.
obwohl sich noch nicht feststellen l'üsst. ob' das V-sr-
steck dreser Dokumente aufgefmiden nnd geplün-
dert worden mar. oder nicbt.

Die übrigen Ntocaen.zeitungen. mid ganz be-
soi.ders „Stockholmsblaidet" fchäumten ior
schlecht verhch.'ter Wut übsr den vom „D.rgs-
curir" eröffneten Feldzua. „Eine Moraeiizoituiia
—" so erefferten sie sich (natürlich ohne Wmon
zu nennen!) — „hrt drr bchördlichsn Unter-
suchung mvt gewohntcr Rücksichtslosigkeit vorgre'.»
fon wollen uird droht ietzt die Poiiznt-.itlgkcit zu
mitergraben und die Berbrcchsr zu warven, in-
d.-iin sie oine Anzahl unMammvonhängender. zu-
fällia aufgeschnappter Tatsacbon vsröffentlicht
Giiie energische Verhinderung dsrartiger bvatlelser
KjüNste er.chemt mehr als wünscbrnswert."

Ataurice 'Wallion lächslte über 'oieisn Ergui^
und als er oine Kurikat -r von sich selbst >nit einciir
Niosenalir am Schlüssolloch horchend onbd^ckte.
schnitt er sre aus nnd klebte ste neben semein Pulr
an die Wand. . ^ .

Dcvboi überlegte er. ob er die Sack^ mtt doi
blMen Zickzacklinien schan im nächsten ArtiDl be
kannt aebeii sollte.

Er beschlost imdesst'ir. noch dcvnrit m warken.
lForUe^vnv ^ini'
 
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