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Hedicke, Robert; Floris, Cornelis
Cornelis Floris und die Florisdekoration: Studien zur niederländischen und deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert (Band 1): Text — Berlin: Bard, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.52536#0441
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_SCHLUSS. DIE FLORISDEKORATION_419
behandelten Teile wachsen zu einem dekorativen Organismus zusammen, das universelle
System wird zur Gesamtharmonie und Gesamtschönheit erhöht. Ein so ausgereifter
und vollkommener Organismus wird in der Kunst als klassisch bezeichnet. In diesem
klassischen Charakter der Florisdekoration liegt das Geheimnis ihrer suggestiven Kraft,
ihrer weiten Verbreitung, ihrer Gemeinverständlichkeit und Popularität in ihrer Zeit,
ihrer Verständlichkeit und Würdigung zu allen Zeiten.
In der Tiefe des Ozeans gibt es eine Gruppe primitiver Lebewesen, bei deren Be*
obachtung man mit wachsendem Erstaunen Formen in reicher Variation ausgebildet
findet, welche den Stilformen menschlicher Kunst höchster Stufe verwandt, dem Wesen
nach identisch sind. Schmückungstrieb und Schutz* oder Erhaltungstrieb ohne Auge und
Werkzeug haben diese Formen hervorgebracht; Kunstwerk und Künstler sind noch
identisch als physisch*psychische Einheit niederster Stufe; es sind die Radiolarien.1 Ein*
fache struktive spitzwinklige Gehäuse empfindet man als gotisch gebildet. Anderen
regelmäßig rund oder kantig*flächig erbauten Kästchen gegenüber nennt man unwill*
kürlich den Namen Renaissance, so einfach und harmonisch klingt da Einzelform und
Gesamtgebilde, Nutzform und Gestaltungsform zusammen. Und schließlich finden
sich auch Kapseln aus weich und schwer fließender Masse wildgenial erzeugt, jenen
formlosen Perlen vergleichbar, aber trotz aller Ungebundenheit und Gesetzlosigkeit der
Form — man denkt an gewisse Architekturformen und besonders Dekorformen des Ohr#
muschelstils — von besonderem Formenreiz im einzelnen und ganzen: sie sind barock.
Der Gedanke der Schutzform ist in den gotischen Gehäusen am reinsten zum Ausdruck
gelangt, die frei gefühlte Form zeigen die barocken Bildungen, während die harmonisch
gestaltete Verbindung beider in der dritten Gruppe von Gehäusen am klarsten in Erschei#
nung tritt. So erweisen sich die Individualitäten dieser primitiven kosmischen Künstler
als wesensverwandt den großen Zeitindividualitäten der Menschheit, die sich in den
großen Kunststilen offenbart haben. Ähnliche primitive Gesetze der formalen Morpho*
logie und Ästhetik, auch ohne Auge, und des Stilinstinktes — denn von Stilpsychologie
darf man wohl hier bei so niedrigen Lebewesen nicht reden — scheinen auch hier die Ge#
bilde zu beherrschen. Und daß diese Gehäuse der Einzellner sich in gewisse Gruppen
scheiden lassen, die den von der menschlichen Weltauffassung erzeugten Stilgruppen
nicht unähnlich erscheinen, das ist vielleicht das merkwürdigste. Die Kunst erweist sich
so als kosmischer Trieb und der Mensch als Künstler in enger Verbindung mit dem
Kosmos, mit dem Göttlichen.
So kann man in der Betrachtung jeder individuellen Einzelkunstform den Zusam#
menhang dieser Form mit Kunststil, Weltkunst, kosmischer Gestaltung erkennen.
Auf unvergleichlich höherer bewußter Gestaltungsstufe stellt die Florisdekoration
1 Vgl. Ernst Haeckels Atlas.

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