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Galerie Henning; Galerie Henning; Schmidt-Rottluff, Karl [Ill.]; Galerie Henning [Contr.]
Karl Schmidt-Rottluff: Aquarelle und Pinselzeichnungen aus den Jahren 1942-1944 : Januar 1949 — Ausstellung zeitgenössischer Kunst: Halle (Saale): Galerie Henning, 1949

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https://doi.org/10.11588/diglit.72848#0005
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Diejenigen, die vor etwa fünfundzwanzig Jahren von der „Überwindung des
Expressionismus" sprachen, befanden sich in einem tiefen Irrtum. Es ging ihnen
— und das ist kaum anders möglich — mit der Kunst, mit deren Entwicklung
und historischer Potenz ähnlich, wie es jedem Menschen bei der Beurteilung
seiner selbst gehen mag, wenn er in der Entwicklung, die er kritisch zu betrachten
unternimmt, mitten darin steht: sie hielten einen Schritt, der eben getan worden
war, für einen ganzen, abgeschlossenen Weg; sie glaubten, es sei ein Ziel erreicht,
wo ein erster Auftakt getan, wo, wenn auch mit radikaler Leidenschaft, ein Ver-
such stattgefunden hatte, den zunächst mehr die Vehemenz des Gestaltungs-
willens als die Solidität reifen und durch Selbstkritik gereinigten Vermögens
an ein festes Ufer trug. Aber nichts als dieses Ufer war auch das Ziel jener
Künstler, die größtenteils, wie Schmidt-Rottluff auch, aus der naturalistischen
und impressionistischen Lehre hinaus wuchsen, die sich im Anblick Edvard Munchs,
van Goghs — bei anderen war es Cezanne — vom Schauder künstlerisch-uner-
klärlicher Dämonie packen ließen, und die sich endlich, alles Vergangene mehr
oder weniger abstreifend, zu persönlichen Aussagen fanden, da sie den Wert
ihrer eigenen, ganz subjektiven Intention erkannten und sich ihr allein anver-
trauten. Darin, so mochte es ihnen scheinen, in ihrem rückhaltlos ausgesprochenen
Ich, lag die größtmögliche Objektivität, die sie so gut zu erreichen trachteten
wie irgend ein Künstler von naturalistischer Gesinnung. Diese Expressionisten
taten nichts anderes, als daß sie umkehrten, sich selbst das Objekt wurden; und
alle Gegenstände, deren Darstellung sie unternahmen, wuchsen mit ihrem Ich
zu einer unlöslichen Gestalt zusammen. Die Meinung, daß Kunst Natur sei,
„gesehen durch ein Temperament", bestätigte sich auch in ihrem Schaffen; jedoch
verschob sich der Akzent merklich von Natur auf Temperament, das Auge wurde
„seelenvoll" in einem heute gern interpretierten Goetheschen Sinne.
Die Bilder der Expressionisten aus den ersten zwei Jahrzehnten sind jedoch
durchaus keine Spiegelgespräche — wenngleich es auch das gab. Was sie von
allem Vorhergegangenen unterscheidet, ist nur eine andere und neue Meinung
von der Natur. Der Mensch, der ihr seit der Renaissance als Beobachtender, als
Lernender und Forschender gegenübertrat, der in dieser Haltung mehr und
mehr Individualist wurde, tut nun einen Schritt, der ihn in seiner Rolle zwar
weitertreibt, gleichzeitig aber auch aussegt und aus der Isolation zurückstößt in
den notwendigen Zusammenhang mit aller Erscheinung: und dies wird das Dar-
stellenswerte. Wo das Ich, das Eigene, das jeder ist, zur beobachteten Natur
wird, zur Natur, die dem Triebe zur Objektivierung zugänglich ist, tritt ein, was
Oskar Wilde vorgeschwebt haben mag, als er an die immer weiter um sich
greifende Individualisierung dachte, von der er in seiner Studie über „Die Seele
des Menschen und der Sozialismus" sprach, wenn er sicherlich auch nicht an
diesen Weg gedacht haben wird, den schließlich die Dinge nahmen. Was jedoch
heraufkam, ist etwas, durch das „jeder Mensch zu seiner Vollendung gelangen"
könnte. Die Erregung um diesen dionysischen Augenblick bewegt die Kunst,
bricht feste Formen auseinander und nähert heterogene zueinander.
Viel tiefer — und hier ist der eigentlich umwälzende Punkt — wirkt es sich
aus, daß der Mensch sich dem Elementaren und Kreatürlichen brüderlich nähern
muß, will er nicht in der Isolation erstarren, die ihn als nur-Erkennenden be-
droht. Er flieht — und dieser Moment ist orphisch — um sich im Schoße der
 
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