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Hirn, Y.; Barth, Paul; Barth, M. [Transl.]
Der Ursprung der Kunst: eine Untersuchung ihrer psychischen und sozialen Ursachen — Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.65699#0143
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Das Kunstwerk.

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vorteilhaft sein, den unterscheidenden Charakter des ästhe-
tischen Urteils zu betonen. Die moderne Kritik, wie sie sich
unter dem Einflüsse moderner, subjektiver Kunst entwickelt
hat, zeigt, wie wir glauben, die wesentlich künstlerische Art
die Kunst zu genießen und zu schätzen. Obgleich diese
Stellung zu ihr verschiedenen Einflüssen gemäß in verschiedenen
Perioden der Kunstgeschichte mehr oder weniger strenge
aufrecht erhalten wurde, haben doch immer diejenigen sie
eingenommen, die die Kunst um ihrer selbst willen genießen.
Immer, wenn wir ein Kunstwerk ohne irgend ein sekundäres
Motiv betrachten, geben wir uns nicht mit den von ihm ge-
schilderten objektiven Wirklichkeiten ab. Wir interessieren
uns nicht für die geschichtliche Laura, deren Ruhm wir in
einem Gedichte lesen. Unsertwegen kann sie in Wirklichkeit
lahm, rothaarig und bucklig gewesen sein. Wir sind ganz zu-
frieden, wenn wir einen getreuen Eindruck von der Schönheit
bekommen, mit welcher sie ihren Dichter bezauberte.
Nachdem wir bewiesen haben, daß die die künstlerische
Korrektur des Wirklichen beherrschenden Regeln, welche auf
der Grundlage intellektualistischer Theorien aufgestellt worden
sind, ebensowohl von einer gefühlsmäßigen Erklärung abgeleitet
werden können, kann man den Beweis leicht so weit aus-
dehnen, daß er die Grundsätze einbegreift, nach welchen die
künstlerische Auslese von Gegenständen und Motiven sich
richtet. Es wird in der Hegelianischen Ästhetik gefordert, daß
jede einzelne in einem Kunstwerke dargestellte Erscheinung
uns die Gegenwart einer größeren und allgemeineren Idee
nahe bringe.1 In Goethes Theorie des Kunststils begegnen
wir demselben — so enge mit seiner allgemeinen Naturphilo-
sophie verknüpften — Ansprüche, daß jede individuelle Form
oder Bewegung uns etwas über den Weltprozeß zu sagen
habe.2 Und wenn Taine eine Abstufung für den relativen
1 Vergl. Kap. II im vorstehenden.
2 Vergl. die von Harnack angeführten Zitate, Die klassische
Ästhetik, S. 124, 143, 161, 164, 165. Vergl. auch von Stein, Goethe und
Schiller, Ästhetik der deutschen Klassiker, S. 25, 27.
Hirn, Ursprung der Kunst. 9
 
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