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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0044
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Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahre

Kopftuch in Kingston (Agnes Etherington Art Cent-
re, Queen’s University) [Kat. 284, Taf. IV].17 Dass es
sich bei der Dargestellten tatsächlich um Rembrandts
Mutter Neeltgen Willemsdochter van Zuytbroeck
(ca. 1568-1640) handelt, ist dokumentarisch nicht
gesichert.18 Zwar wird in dem 1679 aufgenommenen
Nachlassverzeichnis des Kupferstichhändlers Cle-
ment de Jonghe angegeben, dass auf einer von mehre-
ren radierten Kupferplatten »Rembrandts moeder«19
dargestellt sei. Es kann jedoch nicht ausgeschlos-
sen werden, dass es sich bei der erst sehr spät im 17.
Jahrhundert vorgenommenen Bezeichnung um eine
nachträgliche Deutung handelt.20 Zudem ist nicht si-
cher nachzuweisen, welche Radierung mit der nicht
näher beschriebenen Platte de Jonghes überhaupt ge-
druckt wurde.21 Allerdings zeigen beinahe alle von
Rembrandt in den zwanziger und dreißiger Jahren
radierten Blätter mit dem Motiv einer alten Frau
das traditionell als »Rembrandts Mutter< bekannte
Modell,22 das auch auf Lievens’ Bild der Alten Frau
mit buntem Kopftuch sowie auf vielen Gemälden
Rembrandts erscheint. Daher ist es sehr nahe liegend
anzunehmen, dass in de Jonghes Inventar die Plat-
te mit einer Radierung eben dieser Greisin gemeint
ist.23 Ob es sich dabei um Rembrandts Mutter han-

17 Vgl. Kat. Braunschweig 1993/94, Kat. Nr. 6, S. 110; Kat.
Melbourne / Canberra 1997/98, Kat. Nr. 35, S. 220. Das
Modell diente u.a. auch als Vorbild für eine Tronie in der
Burghley House Collection [Kat. 295, Abb. 15, S. 101] und
eine Tronie in Windsor Castle [Kat. 294, Taf. 62]. Zur Zu-
schreibung dieser Werke an Lievens vgl. Sumowski 1983-1994,
Bd. 3, Kat. Nr. 1268, Bd. 6, Kat. Nr. 2360, dort auch die äl-
tere Literatur. Das Gemälde in Windsor Castle galt in RRP
1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr. A32, noch als Werk Rembrandts.
Dessen Urheberschaft wird jedoch in RRP 1982-2005, Bd. 2,
S. 839f., in Zweifel gezogen und eine Zuschreibung an Jan Lie-
vens vorgeschlagen, die in der Folge meist akzeptiert wird. Für
Radierungen Lievens’, die das Modell zeigen, vgl. Hollstein’s
Dutch and Flemish Etchings 1949ff., Bd. 11 (o.J.), Kat. Nr.
49, S. 46, Kat. Nr. 61, S. 52. Die alte Frau diente auch Rem-
brandt und Gerard Dou wiederholt als Modell. Für Beispiele
Rembrandts vgl. RRP 1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr. A3, A12,
A27, A37; Hollstein’sDutch andFlemishEtchings 1949ff.,
Bd. 18/19 (1969), Kat. Nr. B. 343, 348, 349, 352, 354; für Bei-
spiele Dous vgl. Sumowski 1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 253; Kat.
Washington / London / Den Haag 2000/01, Kat. Nr. 2, S.
66f.; Kat. Kassel / Amsterdam 2001/02, Kat. Nr. 77, S. 360-363.
18 Vgl. RRP 1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr. 27, S. 274; Sci-iwartz
1987, S. 63-66; Kat. Berlin / Amsterdam / London
1991/92a, Kat. Nr. 6, S. 140; Kat. Berlin / Amsterdam /
London 1991/92b, Kat. Nr. 4, S. 177f.; Kat. Frankfurt
1993/94, Kat. Nr. 69, S. 278; Blankert 1997/98a, S. 45f.;
Westermann 2000/01, S. 42. Korevaar 2005/06, S. 36f.

delt, muss offen bleiben - unwahrscheinlich ist dies
jedoch nicht.24
Wie erläutert, setzt die für Lievens’ Tronien zu be-
obachtende exakte Wiederholung einer bestimmten
Physiognomie das Studium nach dem lebenden Mo-
dell voraus.25 Hierin liegt eine wesentliche Innovation
der Tronien des Meisters. Denn ihre realistische Dar-
stellungsweise unterscheidet sie von bereits früher
entstandenen holländischen Gemälden, die in typo-
logischer Hinsicht vergleichbar sind.26 Cornelis Cor-
nelisz. van Haarlem (1562-1638) z.B. schuf seit den
späten 1580er Jahren Büsten in Phantasietracht ohne
Beiwerk oder Attribute und vor neutralem Hinter-
grund.27 Es handelt sich dabei allerdings ausnahmslos
um junge Frauen und seltener junge Männer. Sie sind
häufig mit nacktem Oberkörper dargestellt und ihre
Züge entsprechen in aller Regel einem von Cornelis
bevorzugten Idealtypus weiblicher bzw. männlicher
Schönheit. Wie sich anhand des 1619 datierten Brust-
bildes einer Frau in unbekanntem Besitz [Kat. 81,
Taf. 14] veranschaulichen lässt, gehören zu den be-
stimmenden Merkmalen der weiblichen Figuren ein
vollkommenes, nach unten hin schmaler werdendes
Gesichtsoval, große Augen unter zarten Brauen, eine
19 Vgl. Boon / Hoop Scheffer 1971, S. 6.
20 Zur willkürlichen Verbindung von Tronien mit einer fiktiven
Identität durch die zeitgenössischen Rezipienten vgl. unten,
Kap. IV.1.2.
21 Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a, S. 140; Kat.
Berlin / Amsterdam / London 1991/92b, S. 177f.; RRP
1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr. A27, S. 357; Kat. Leiden 2005/06,
Kat. Nr. 9, S. 97.
22 Vgl. Korevaar 2005/06, S. 36. Für eine der wenigen Ausnah-
men vgl. Hollstein’s Dutch and Flemish Etchings 1949ff.,
Bd. 18/19 (1969), Kat. Nr. B. 355.
23 Münz 1952, Bd. 2, S. 210f., Nr. 10, und Boon / Hoop Schef-
fer 1971, S. 14/15, halten die Radierung B. 343 für das zu
diesem Titel gehörende Blatt.
24 Vogelaar 2005/06, bes. S. 21,27-29; Korevaar 2005/06, bes.
S. 36f., greifen das Problem auf und plädieren dafür, dass das
als Rembrandts Mutter geltende Modell tatsächlich Neeltje
van Zuytbroeck ist. Einen sicheren Beleg für diese Annahme
bleiben die Autoren jedoch weiterhin schuldig.
25 Vgl. Boehm 1985, S. 19-32.
26 Für gezeichnete und gedruckte Studien- und Charakterköp-
fe holländischer Künstler, die den gemalten Tronien Lievens’
und Rembrandts unmittelbar vorausgingen, vgl. unten, Kap.
II.1.6, S. 69-72.
27 Vgl. hierzu sowie zur Funktion der Büsten des Cornelis
Cornelisz. van Haarlem teils als Studienmaterial, teils als
selbständige Kunstwerke Thiel 1999, S. 105f., 125f., 142f.
 
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