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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0045
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Die Entstehung der Tronie in Leiden und Haarlem

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zierliche gerade Nase, ein kleiner Mund mit vollen
Lippen und ein rundes Kinn. Diese Art der Typisierung
erinnert ihrem Schema nach an ein Schönheitsideal, wie
es sich auch in niederländischen Madonnendarstellun-
gen des 16. Jahrhunderts findet.28
Selbst wenn gelegentlich die Züge eines Modells,
wie z. B. beim Brustbild einer Frau in Gent (Privat-
besitz) von 1622 [Kat. 82], greifbar scheinen,29 ist die
Abweichung der Einzelformen des Gesichts von ei-
ner festgelegten Norm minimiert und wird Eigenart
durch Typisierung in Allgemeingültigkeit verwan-
delt.30 Cornelis ging es offensichtlich weder um die
Vergegenwärtigung einer charakteristischen Physio-
gnomie, die bei Lievens Priorität besitzt, noch um
die Entfaltung eines breiten Spektrums unterschied-
licher Köpfe und Brustbilder. Greisengesichter bei-
spielsweise, deren Züge von den Spuren des Alters
gezeichnet sind, kommen bei ihm nicht vor.
Lievens dagegen zeigt gerade an der ungeschönten
und detaillierten Schilderung greiser Physiognomien
besonderes Interesse. Meisterhaft gibt er etwa die wel-
ke, leicht gelbliche Haut mit bläulich darunter schim-
mernden Adern der im Profil gezeigten Alten Frau
mit buntem Kopftuch in Kingston (Agnes Ethering-
ton Art Centre, Queen’s University) [Kat. 284, Taf.
IV] wieder; genau studiert er ihre Runzeln und Falten,
den eingefallenen zahnlosen Mund und den trüben
Blick der Alten. Gleichzeitig brilliert der junge Ma-
ler in der scheinbar mühelosen, äußerst nuancierten
Wiedergabe des durchsichtigen seidenen Kopftuches
mit der bunten Musterung. Wesentlich zur Wirkung
des Bildes trägt zudem der durch starke Kontraste ge-
prägte Einsatz des Lichtes bei: Während das Gesicht
der Alten hell angestrahlt wird, verschwindet ein Teil
ihres Hinterkopfes in tiefem Schatten.
Dieselben Charakteristika, die die beschriebene
Alte Frau mit buntem Kopftuch auszeichnen, sind
auch für die anderen Tronien aus Lievens’ Leide-
ner Schaffensperiode typisch: Neben der veristi-
schen Darstellung einer individuellen Physiognomie
konzentrierte sich der Maler vor allem darauf, eine
bestimmte, meist effektvoll zugespitzte Beleuch-
tungssituation wiederzugeben. Besonders bei den

aufwendiger kostümierten Figuren legte er dabei
Wert auf die Darstellung unterschiedlicher Materi-
alien und Oberflächenstrukturen. Zudem ist wieder-
holt das Bestreben zu beobachten, im Gegensatz zu
der Buntfarbigkeit der frühen Historien und Einfi-
gurenbilder einen einheitlicheren Färb klang zu er-
zielen, der aus relativ wenigen Tönen besteht [Kat.
279, Taf. II, Kat. 293, 297].31
Hinsichtlich der Malweise der Tronien fällt auf,
dass Lievens diese auf den jeweils dargestellten Figu-
rentyp abstimmte. Seine Tronien von Kindern sowie
Frauen und Männern jüngeren Alters weisen in der
Regel eine relativ glatte und sorgfältige Pinselarbeit
auf [Kat. 285, Taf. 60, Kat. 292, Taf. 62]. Die faltige
Haut der Greise und Greisinnen wird dagegen durch
pastoseren Farbauftrag charakterisiert, der bis zu ei-
ner skizzenhaft rauen Malweise gesteigert sein kann
[Kat. 279, Taf. II]. Dabei werden die Kostüme, wie
etwa die eindrucksvolle Tronie eines Bärtigen alten
Mannes mit Mütze von 1631 (Boston, Sammlung
Peck) [Kat. 305, Taf. 64] zeigt, oft nur summarisch,
unter Verzicht auf erkennbare Details angegeben.
Gelegentlich kommt dies allerdings auch bei Darstel-
lungen jüngerer Personen vor. So ist beispielsweise
das Kostüm des Rotterdamer Brustbildes eines Kna-
ben [Kat. 306, Taf. 65] in breiten Tupfen und Strichen
lediglich skizziert. Das Gesicht des Jungen dagegen
ist fein modelliert und weist weiche Übergänge auf.
Lievens’ Tronien sind zwar in der Regel als Brust-
bilder und nur selten mit Armen oder Händen dar-
gestellt. Es gibt jedoch auch einige Ausnahmen, die
eine Halb- oder sogar eine Dreiviertelfigur zum
Gegenstand haben. So sind der Orientale in Pots-
dam (Sanssouci, Gemäldegalerie) [Kat. 290, Taf. 61]
und der Junge Mann mit Umhang und Turban in
englischem Privatbesitz [Kat. 307] als Halbfiguren
gegeben, das >Selbstbildnis< in gelbem Gewand in
Edinburgh (National Gallery of Scotland) [Kat. 308,
Taf. 66] sogar als Dreiviertelfigur. Wie bereits erör-
tert, wurden Figuren diesen Bildausschnitts von den
Zeitgenossen durchaus als >tromen< bezeichnet.32 Da
der Fokus der Bilder auf der Darstellung lebensnah
aufgefasster Figuren liegt,33 die vor neutralem Hinter-

28 Vgl. z.B. Friedländer 1975, Kat. Nr. 200, PI. 110, Kat. Nr.
329, PI. 179, Kat. Nr. 332, PI. 180.
29 Vgl. Thiel 1999, S. 143.
30 Zu den prägenden Eigenschaften von Idealbildnissen, bei de-
nen es nicht darum geht, ein Individuum darzustellen, vgl.
Boehm 1985, S. 115-126.
31 Vgl. Schneider / Ekkart 1973, S. 28.

32 Vgl. oben, Kap. 1.4, S. 31.
33 Eine Ausnahme bildet die Frau in Gelb mit Fächer aus Para-
diesvogelfedern (Kupfer, 25 x 21 cm, bez.: IL, unbekannter
Besitz, Sumowski 1983-1994, Bd. 6, Kat. Nr. 2363), deren
Gesicht schematisiert wirkt. Allerdings muss ein der Photo-
graphie nach zu urteilen offenbar schlechter Erhaltungszu-
stand des Bildes in Rechnung gestellt werden.
 
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