Die Entstehung der Tronie in Leiden und Haarlem
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nicht üblich. Doch bietet sie sich bei Studien- und
Werkstattmaterial, das dem persönlichen Gebrauch
des Künstlers diente und nicht zum Verkauf be-
stimmt war, aus ökonomischen Gründen durchaus
an.127
Die direkte Übernahme eines Kopfes in eine
größere Komposition ist bei Rembrandt allerdings
ebenso wenig wie bei Lievens festzustellen. Rem-
brandt produzierte keine werkvorbereitenden Studi-
en im engeren Sinne.128 Vielmehr nutzte er die durch
das Malen von Tronien gewonnenen Erfahrungen
für seine Historienbilder. Umgekehrt boten Letztere
jedoch auch Anregungen für die unterschiedlichen
Brustbilder, die Rembrandt während der Leidener
Jahre schuf. Offensichtlich erfüllten die Tronien
also auch einen Selbstzweck: Es waren eigenständige
Schöpfungen, deren Erfindung sich aus Rembrandts
Tätigkeit als Maler von Historien speiste und gleich-
zeitig auf diese zurückwirkte. Dass Rembrandts Tro-
nien tatsächlich als eigenwertig betrachtet wurden,
belegen zwei Inventare aus den zwanziger Jahren.
Das Rechnungsbuch des Amsterdamer Bürgers Joan
Huydecopers (1559-1661) verzeichnet bereits am 15.
Juni 1628 »een tronitgen van rembrant.«129 Zudem
findet sich in dem 1629 aufgenommenen Nachlass-
verzeichnis des Landschaftsmalers Barent Theunisz.
Drent (1577-1629) »Een klein Tronijtgen van Rem-
brandt.«130 Ebenso wie Lievens verkaufte also auch
Rembrandt seine Tronien bereits zu einem frühen
Zeitpunkt.
1.6 Künstlerische Vorläufer der frühen Tronien
Lievens’ und Rembrandts
Neben der beschriebenen Entwicklung der Tronien
Lievens’ und Rembrandts in Anlehnung an das eige-
ne CEuvre der Meister spielten weitere Faktoren eine
wichtige Rolle bei der Entstehung des Bildtyps in Lei-
den. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit
sich Lievens und Rembrandt bei der Produktion ihrer
Tronien auf bereits etablierte Traditionen stützen und
welche künstlerischen Vorläufer ihnen als Anregung
dienen konnten. Als mögliche Vorbilder sind Werke
von Interesse, die einerseits nicht als Bildnisse fun-
gierten und andererseits wesentliche Eigenschaften
der frühen Tronien Lievens’ und Rembrandts teilen.
Entscheidend sind hierbei die isolierte Darstellung
einer einzelnen Figur vor neutralem Hintergrund,
die Reduktion des Bildausschnitts auf einen Kopf, ein
Brustbild oder eine Halbfigur sowie die lebensnahe
oder zumindest auf die Wiedergabe einer charakte-
ristischen Physiognomie abzielende Schilderung des
Gesichts.
Die folgende Analyse konzentriert sich vornehm-
lich auf Vorläufer in der niederländischen und deut-
schen Malerei und Graphik des 16. und frühen 17.
Jahrhunderts. Diese Beschränkung hat ihren Grund
zum einen darin, dass sich die unmittelbare Verar-
beitung italienischer Bilder im Frühwerk der beiden
Leidener nicht nachweisen lässt. Zum anderen ver-
dienen Werke italienischer Künstler, die mit hollän-
dischen und flämischen Tronien vergleichbar sind,131
eine eigene Untersuchung und können im Rahmen
dieser Arbeit nicht in angemessener Breite behandelt
werden.132
Die Reduktion von nicht der Gattung Porträt an-
gehörenden Figurenbildern auf eine einzelne Drei-
viertel- bzw. Halbfigur oder sogar ein Brustbild war
in der nordeuropäischen Malerei, vor allem aber
in der Druckgraphik bereits im 16. und frühen 17.
127 Vgl. RRP 1982-2005, Bd. 1, S. 222; Wetering 1982, S. 32;
ders. 2005b, S. 96-98; Kat. Amsterdam / Berlin 2006, Kat.
Nr. 33/34, S. 306. Zwar weist Wetering 2005b, S. 97, darauf
hin, dass Rembrandts Palimpseste durchaus verkauft wur-
den. Dies heißt jedoch nicht, dass sie auch mit dieser Inten-
tion geschaffen worden sein müssen.
128 Wetering 2006b, geht zwar neuerdings davon aus, dass
Rembrandt die Köpfe der Figuren seiner in Amsterdam ge¬
schaffenen Historien in einer Reihe von Fällen mit Hilfe von
Tronien vorbereitete. Die unveränderte Übernahme einer
Tronie in eine größere Komposition kann er allerdings nicht
nachweisen. Vgl. oben, Kap. II.1.5, S. 53, Anna. 119.
129 Schwartz 1987, S. 134.
130 Strauss / Meulen 1979, Dok. 1629/1, S. 64 (Inv. Barent
Teunisz. Drent, Amsterdam 19.10.1629). Vgl. auch Bredius
1915-1922, Bd. 1, S. 291, Nr. 25.
131 Vgl. z.B. den Annibale Carracci zugeschriebenen Kopf eines
alten Mannes, Leinwand, 39,4 x 27,9 cm, Dulwich Picture
Gallery, London, Kat. London 1998, Kat. Nr. 286, S. 63.
132 Wie mir Franziska Gottwald (Kingston, Kanada) mündlich
mitteilte, nimmt sie in ihrer Dissertation zur »Gattung Tro-
nie« eine eingehende Analyse der italienischen Bildtradition
vor.
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nicht üblich. Doch bietet sie sich bei Studien- und
Werkstattmaterial, das dem persönlichen Gebrauch
des Künstlers diente und nicht zum Verkauf be-
stimmt war, aus ökonomischen Gründen durchaus
an.127
Die direkte Übernahme eines Kopfes in eine
größere Komposition ist bei Rembrandt allerdings
ebenso wenig wie bei Lievens festzustellen. Rem-
brandt produzierte keine werkvorbereitenden Studi-
en im engeren Sinne.128 Vielmehr nutzte er die durch
das Malen von Tronien gewonnenen Erfahrungen
für seine Historienbilder. Umgekehrt boten Letztere
jedoch auch Anregungen für die unterschiedlichen
Brustbilder, die Rembrandt während der Leidener
Jahre schuf. Offensichtlich erfüllten die Tronien
also auch einen Selbstzweck: Es waren eigenständige
Schöpfungen, deren Erfindung sich aus Rembrandts
Tätigkeit als Maler von Historien speiste und gleich-
zeitig auf diese zurückwirkte. Dass Rembrandts Tro-
nien tatsächlich als eigenwertig betrachtet wurden,
belegen zwei Inventare aus den zwanziger Jahren.
Das Rechnungsbuch des Amsterdamer Bürgers Joan
Huydecopers (1559-1661) verzeichnet bereits am 15.
Juni 1628 »een tronitgen van rembrant.«129 Zudem
findet sich in dem 1629 aufgenommenen Nachlass-
verzeichnis des Landschaftsmalers Barent Theunisz.
Drent (1577-1629) »Een klein Tronijtgen van Rem-
brandt.«130 Ebenso wie Lievens verkaufte also auch
Rembrandt seine Tronien bereits zu einem frühen
Zeitpunkt.
1.6 Künstlerische Vorläufer der frühen Tronien
Lievens’ und Rembrandts
Neben der beschriebenen Entwicklung der Tronien
Lievens’ und Rembrandts in Anlehnung an das eige-
ne CEuvre der Meister spielten weitere Faktoren eine
wichtige Rolle bei der Entstehung des Bildtyps in Lei-
den. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit
sich Lievens und Rembrandt bei der Produktion ihrer
Tronien auf bereits etablierte Traditionen stützen und
welche künstlerischen Vorläufer ihnen als Anregung
dienen konnten. Als mögliche Vorbilder sind Werke
von Interesse, die einerseits nicht als Bildnisse fun-
gierten und andererseits wesentliche Eigenschaften
der frühen Tronien Lievens’ und Rembrandts teilen.
Entscheidend sind hierbei die isolierte Darstellung
einer einzelnen Figur vor neutralem Hintergrund,
die Reduktion des Bildausschnitts auf einen Kopf, ein
Brustbild oder eine Halbfigur sowie die lebensnahe
oder zumindest auf die Wiedergabe einer charakte-
ristischen Physiognomie abzielende Schilderung des
Gesichts.
Die folgende Analyse konzentriert sich vornehm-
lich auf Vorläufer in der niederländischen und deut-
schen Malerei und Graphik des 16. und frühen 17.
Jahrhunderts. Diese Beschränkung hat ihren Grund
zum einen darin, dass sich die unmittelbare Verar-
beitung italienischer Bilder im Frühwerk der beiden
Leidener nicht nachweisen lässt. Zum anderen ver-
dienen Werke italienischer Künstler, die mit hollän-
dischen und flämischen Tronien vergleichbar sind,131
eine eigene Untersuchung und können im Rahmen
dieser Arbeit nicht in angemessener Breite behandelt
werden.132
Die Reduktion von nicht der Gattung Porträt an-
gehörenden Figurenbildern auf eine einzelne Drei-
viertel- bzw. Halbfigur oder sogar ein Brustbild war
in der nordeuropäischen Malerei, vor allem aber
in der Druckgraphik bereits im 16. und frühen 17.
127 Vgl. RRP 1982-2005, Bd. 1, S. 222; Wetering 1982, S. 32;
ders. 2005b, S. 96-98; Kat. Amsterdam / Berlin 2006, Kat.
Nr. 33/34, S. 306. Zwar weist Wetering 2005b, S. 97, darauf
hin, dass Rembrandts Palimpseste durchaus verkauft wur-
den. Dies heißt jedoch nicht, dass sie auch mit dieser Inten-
tion geschaffen worden sein müssen.
128 Wetering 2006b, geht zwar neuerdings davon aus, dass
Rembrandt die Köpfe der Figuren seiner in Amsterdam ge¬
schaffenen Historien in einer Reihe von Fällen mit Hilfe von
Tronien vorbereitete. Die unveränderte Übernahme einer
Tronie in eine größere Komposition kann er allerdings nicht
nachweisen. Vgl. oben, Kap. II.1.5, S. 53, Anna. 119.
129 Schwartz 1987, S. 134.
130 Strauss / Meulen 1979, Dok. 1629/1, S. 64 (Inv. Barent
Teunisz. Drent, Amsterdam 19.10.1629). Vgl. auch Bredius
1915-1922, Bd. 1, S. 291, Nr. 25.
131 Vgl. z.B. den Annibale Carracci zugeschriebenen Kopf eines
alten Mannes, Leinwand, 39,4 x 27,9 cm, Dulwich Picture
Gallery, London, Kat. London 1998, Kat. Nr. 286, S. 63.
132 Wie mir Franziska Gottwald (Kingston, Kanada) mündlich
mitteilte, nimmt sie in ihrer Dissertation zur »Gattung Tro-
nie« eine eingehende Analyse der italienischen Bildtradition
vor.