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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0203
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Tronien und einfigurige Genre- und Historienbilder

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der Tatsache, dass Rembrandt sich auf diese Darstel-
lungstradition stützen konnte, steht außer Frage, dass
die künstlerische Auffassung seiner Apostel von der
bereits in Leiden ausgeübten und bis in die sechziger
Jahre hinein fortgesetzten Praxis der Tronieproduk-
tion profitierte. Die spezifischen Eigenschaften der
Apostel Rembrandts sind bereits für seine frühen
Tronien charakteristisch. Offensichtlich wandte der
Meister also Gestaltungsprinzipien der Tronie auf
seine im Ausschnitt reduzierten, einfigurigen Histo-
rienbilder an.
Dasselbe Phänomen lässt sich bereits zu einem
früheren Zeitpunkt im (Euvre Anthonis van Dycks
beobachten. Dieser malte vermutlich in den Jahren
1618-1620, vielleicht aber auch schon um 1615-1616
mehrere Apostelfolgen,32 von denen allerdings nur
die so genannte Böhlersche Serie vollständig erhalten
ist.33 Die Apostel van Dycks weisen große Ähnlich-
keit mit den Kopfstudien des Meisters auf: Wie der
Vergleich des Heiligen Philip in Wien (Kunsthisto-
risches Museum) [Kat. 115, Taf. 23] mit einer zwei
Männerköpfe zeigenden Studie in Lyon (Musee des
Beaux-Arts) [Kat. 117, Taf. 23] veranschaulicht, be-
steht eine der wichtigsten Übereinstimmungen in
der ausgesprochen freien, dynamischen Malweise in
breiten Pinselstrichen, in der die Figuren ausgeführt
sind; zudem gleichen sich die Bilder hinsichtlich der
expressiven Lichtführung sowie der besonders natu-
ralistischen Auffassung der Figuren.34 Auch sind die
Gesichter der Apostel van Dycks - wie viele seiner
Studienköpfe - oftmals stark verschattet oder vom
Betrachter abgewandt. Dies gilt z.B. für einen Hei-
ligen Simon in Wien (Kunsthistorisches Museum)

[Kat. 116], für den van Dyck den linken Kopf auf
der genannten Studie in Lyon [Kat. 117, Taf. 23] als
Vorlage verwandte.35 Selbst wenn dieser und ähnliche
Studienköpfe zur unmittelbaren Vorbereitung der
halbfigurigen Aposteldarstellungen gedacht waren,
ist bemerkenswert, dass sich die beiden Bildgruppen
in der künstlerischen Auffassung kaum voneinander
unterscheiden.36 Offensichtlich machte van Dyck die
Beschäftigung mit Kopfstudien bzw. Tronien, die
Teil des Werkprozesses waren, für die Art der ma-
lerischen Umsetzung seiner Brustbilder und Halb-
figuren identifizierbarer biblischer Figuren frucht-
bar.37
Die als Brustbilder, Halb- oder Dreiviertelfiguren
dargestellten Apostel van Dycks und Rembrandts
waren in den Augen der Zeitgenossen sicher gerade
deshalb interessant, weil darin ein traditionelles Dar-
stellungsschema mit Hilfe einer unkonventionellen
Gestaltungsweise neu belebt wurde. Die Übertragung
tronietypischer Gestaltungsmittel auf einfigurige His-
torienbilder führte dazu, dass Letztere nicht nur die
rein formalen Eigenschaften von Tronien, sondern
auch bestimmte Funktionen bzw. Wirkungsweisen
des Bildtyps integrierten. Deutlich wird dies allerdings
erst vor dem Hintergrund der in Teil V der Arbeit
vorgenommenen Untersuchung, auf die aus diesem
Grund ein kurzer Vorgriff erlaubt sei: Die an Tronien
orientierte Gestaltungsweise von Rembrandts einfi-
gurigen Aposteldarstellungen in knappem Bildaus-
schnitt lässt mit Blick auf die in Kapitel V gewonnenen
Erkenntnisse darauf schließen, dass es nicht darum
ging, die traditionelle, religiös bedingte Aufgabe ein-
figunger Heiligendarstellungen einzulösen und dem

32 Zur Datierung der Aposteldarstellungen vgl. zuletzt N. de
Poorter in Barnes et al. 2004, S. 67, 70, dort auch Verweise
auf die ältere Forschung.
33 Vgl. Larsen 1988, Bd. 1, S. 128, 140; S.J. Barnes in Kat.
Washington 1990/91, Kat. Nr. 19/20, S. 130. Für die ge-
samte Serie vgl. Larsen 1988, Bd. 2, Kat. Nr. 146, 150, 153,
156,173, 180, 185, 188, 197,200, 204, 207, 210; Barnes et al.
2004, Kat. Nr. I.51-I.63.
34 Im Zusammenhang mit der Verhandlung der Klage des
Antwerpeners Frangois Hillewerve, der 1660 eine Serie von
»Christus und den 12 Aposteln« von van Dyck gekauft hat¬
te, sich kurz danach aber betrogen glaubte und die Echtheit
der Werke anzweifelte, gab Jan Brueghel d.J. an, dass sein
(Brueghels) Onkel Pieter de Jode van Dyck für einen Apostel
der Serie Hillewerves Modell stand, Lammertse 2002, S. 140.
Vgl. auch Urbach 1983, S. 5; N. de Poorter in Barnes et
al. 2004, S. 67. Van Dyck fertigte seine Apostel also offen-
sichtlich nach dem lebenden Modell an. Vgl. auch: Duverger
1984-2002, Bd. 12 (2002), Dok. 3988, Nr. 51, S. 91 (Inv. Joan

Baptista I. Anthoine, Antwerpen 28.3.1691): »Een Christus-
trome van Van Dijck naer het leven fl. 72—00.«
35 Larsen 1988, Bd. 1, S. 141f., Bd. 2, Kat. Nr. 204, S. 91; Bar-
nes et AL. 2004, Kat. Nr. 1.91.
36 Vgl. N. de Poorter in Barnes ET AL. 2004, S. 67, 70. De Poor-
ter weist darauf hin, dass van Dyck seine halbfigurigen Apos-
teldarstellungen ebenso wie seine Studienköpfe als Vorbilder
für die Gestaltung der Figuren in seinen Historien verwand-
te. Vgl. ebenso S.J. Barnes in Kat. Washington 1990/91,
Kat. Nr. 18/20, S. 130.
37 Urbach 1983, bes. S. 6f., 18f., sieht in den im 16. Jahrhundert
von Künstlern wie Frans Floris geschaffenen Kopfstudien
die entscheidenden Vorläufer der Aposteldarstellungen van
Dycks, aber auch Rubens'. In van Dycks Werk finden sich
auch andere identifizierbare Halbfiguren, die Studiencharak-
ter besitzen. Vgl. z.B. die Büßende Magdalena mit Toten-
schädel (Privatsammlung), Barnes et al. 2004, Kat. Nr. 1.41.
Vgl. auch ebd., Kat. Nr. 1.42.
 
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