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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0204
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Verbreitung und Formen der Tronie

Betrachter das Idealbildnis eines anbetungswürdigen
Heiligen vor Augen zu stellen. Vielmehr dienten die
Bilder zum einen als Beispiele für die Kunstfertig-
keit und den persönlichen Malstil des Meisters, der
anhand eines bekannten Bildsujets vorgeführt wird.
Zum anderen ist die individualisierende, mit Mitteln
der Porträtmalerei arbeitende Darstellungsweise als
Aufforderung an den zeitgenössischen Betrachter zu
verstehen, die besondere Befähigung des Künstlers
zur Charakterdarstellung zu würdigen und die Bil-
der in entsprechender Weise zu deuten.
Damit sind Einfigurenbilder in begrenztem Bild-
ausschnitt, die einerseits als bestimmte Protagonisten
der Historienmalerei benennbar sind, andererseits
aber die künstlerischen Qualitäten und Merkmale
von Tronien besitzen, als ein Grenzphänomen der
Tronie zu beschreiben. Aufgrund ihrer Ikonogra-
phie gehören sie der Darstellungstradition einfigu-
nger Historienbilder an, in gestalterischer Hinsicht
sind sie jedoch als spezifische künstlerische Aufgabe
dem Bildtyp Tronie zuzuordnen. Die akademische
Gattungseinteilung nach Gegenständen erweist sich
damit als zu starr und zu eng, um der künstlerischen
Praxis des 17. Jahrhunderts und ihren spezifischen
Anforderungen gerecht zu werden und ein angemes-
senes Verständnis der Werke zu ermöglichen.
Letzteres ist im Falle einfiguriger Historienbilder
mit Tronie-Qualitäten auch davon abhängig, dass
sie nicht etwa mit historisierten Porträts verwechselt
werden. Für die Abgrenzung von portraits histories
und >Tronien< mit identitätsstiftenden Attributen oder
Kennzeichen (bzw. einfigurigen Historienbildern mit
den künstlerischen Eigenschaften einer Tronie) gelten
dieselben Kriterien wie für die Unterscheidung von
Kostümporträts und Tronien ohne Attribute.
Im Schaffen Rembrandts ging die Produktion
von Tronien der Schöpfung seines ersten auf eine
Halbfigur begrenzten einfigurigen Historienbildes
in Gestalt seines Apostel Petrus in Stockholm (Na-
tionalmuseum) [Kat. 404, Taf. 85] eindeutig vor-
aus. Anders liegt der Fall bei Jan Lievens und Frans
Hals: Beide Maler entwickelten ihre Tronien gerade
unter Bezugnahme auf die eigenen mit Attributen
versehenen Halbfiguren, indem sie diese auf einen
kleineren Bildausschnitt reduzierten oder die Attri-
bute wegließen. Die Tatsache, dass die einfigurigen
Genre- und Historienbilder von Lievens und Hals

ihren Tronien ausgesprochen nahe stehen, erklärt
sich nicht zuletzt daraus, dass bereits die anfängliche
Produktion der mit signifikanten Attributen ausge-
statteten Halbfiguren von ähnlichen Interessen gelei-
tet war, wie sie auch die Schöpfung der Tronien der
Meister maßgeblich bestimmten. Die verschiedenen,
schon in den einfigurigen Genre- bzw. Historienbil-
dern der Maler zutage tretenden Aspekte künstleri-
scher Gestaltung erfahren in ihren Tronien gleichsam
eine Verdichtung durch den Verzicht auf ablenkende
Zutaten bzw. die Reduktion des Formats.
Besonders bei Hals fällt eine Abgrenzung der
Bildformen voneinander schwer, weil die jeweiligen
Übergänge, wie bereits in Kapitel II. 1.7 dargelegt,
fließend sind: Der Meister experimentierte mit va-
riablen Bildausschnitten und schuf vor neutralem
Hintergrund figurierende Köpfe und Halbfiguren
jeweils sowohl mit als auch ohne Attribute. Dabei
weisen Hals’ einfigurige Genrebilder im Halbfigu-
renausschnitt in einem entscheidenden Punkt stärke-
re Verwandtschaft mit Tronien auf als dies etwa bei
den isolierten Halbfiguren der Utrechter Caravag-
gisten der Fall ist: Wie bereits erörtert, besteht ein
wesentliches Merkmal der Bilder von Hals in ihrer
skizzenhaft-lockeren Malweise und damit in der
dezidierten Betonung der Handschrift des Meisters
[Kat. 201-202, Taf. 42], In Verbindung mit der star-
ken Präsenz der lebensnah dargestellten Modelle so-
wie der überzeugenden Schilderung mimischen Aus-
drucks spricht dies gegen eine kategoriale Trennung
der Werke von der Gruppe der Tronien.
Die formale und stilistische Gestaltung einer Rei-
he der von Lievens, Rembrandt und Hals geschaf-
fenen einfigurigen Genre- und Historienbilder in
reduziertem Bildausschnitt erfüllt - abgesehen von
der Beigabe der Attribute - alle Kriterien, die für die
Zuordnung eines Gemäldes zum Bildtyp der Tronie
maßgeblich sind.38 Damit ist von ähnlichen künstle-
rischen Intentionen auszugehen und lassen sich die
Werke als eine malerische Aufgabe im Sinne der Tro-
nie begreifen. Gleichzeitig bleiben die Bilder freilich
an die ikonographische Tradition der Genre- und
Historienmalerei gebunden und können inhaltlich
gemäß dem für diese verbindlichen Deutungshori-
zont interpretiert werden.
Die Beschäftigung mit den verschiedenen Bildgat-
tungen war bei Künstlern wie Hals und Rembrandt

38 Für ein entsprechendes Gemälde von Lievens vgl. z.B. seine
Heilige Magdalena als Büßerin in Kingston/Kanada (Queen’s

University, Agnes Etherington Art Centre), Sumowski 1983—
1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1237.
 
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