Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0208
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
188

Verbreitung und Formen der Tronie

einfiguriger Genre- und Historienbilder zu ziehen.
Gelegentlich begegnen Grenzfälle, die dem Bildtyp
der Tronie sehr nahe stehen, selbst wenn bestimmte Ge-
genstände im Hintergrund auf einen konkreten Bild-
inhalt hindeuten. Ein Beispiel hierfür ist Rembrandts
Halbfigur eines Mannes in orientalischem Kostüm in
Chatsworth (Sammlung des Duke of Devonshire)
[Kat. 431, Taf. 91]. Das Gemälde ist zweifellos als
Darstellung einer bestimmten Person intendiert,
wenn deren Identifizierung der Forschung auch
Schwierigkeiten bereitet und entsprechende Deu-
tungsversuche bisher zu den unterschiedlichsten, in
keinem Fall völlig überzeugenden Ergebnissen führ-
ten.52 Neben den auf eine Krankheit hindeutenden
grauen Flecken im Gesicht des Mannes verweist vor
allem das im rechten Hintergrund sichtbare Tempel-
innere, in dem spezifische Details wie die von einer
Schlange umschlungene kannelierte Säule erkennbar
sind, auf einen bestimmten Erzählzusammenhang mit
dem Dargestellten als Hauptfigur. Allerdings nimmt
die Schilderung des Interieurs nur eine sehr kleine
Fläche des Bildes ein und treten die betreffenden
Gegenstände durch ihre geringe Größe, die mono-
chrome Farbgebung und das gedämpfte Licht gegen-
über der im Vordergrund posierenden Figur stark
zurück. Der Orientale ist in der Art eines Porträts
präsentiert: in würdiger Haltung und mit ineinander
gelegten Händen wendet er sich zum Betrachter, den
er direkt anblickt. Die Figur ist nicht etwa von Bei-
werk umgeben bzw. in eine bestimmte Umgebung
>eingebettet< und dabei in eine Tätigkeit involviert.
Vielmehr erscheint das durch schwache Beleuchtung
sichtbar gemachte Interieur wie eine attributive Zutat,
die zur Identifizierung des Greises diskret im Hin-
tergrund angebracht ist. Die lebensnahe Schilderung
der Figur, ihr porträthafter Charakter und die stel-
lenweise, etwa im Gesicht des Mannes, besonders
freie Farbbehandlung entsprechen der künstlerischen

Auffassung von Tronien.53 Gleichzeitig handelt es
sich um ein einfiguriges Historienbild, das im Sinne
einer >Herauslösung< zu verstehen ist, da die Figur
dem narrativen Kontext einer Historie entstammt, in
diesen jedoch nicht mehr eingebunden ist.
Christian Tümpel beschreibt das im Werk Rem-
brandts wiederholt zu beobachtende Phänomen der
>Herauslösung< folgendermaßen: »Um den psycho-
logischen Gehalt einer Szene gegenüber den tradi-
tionellen Darstellungen zu intensivieren oder das
Besondere, das das Verhältnis zweier Personen zu-
einander bestimmt, gesteigert zur Anschauung zu
bringen, löste Rembrandt manchmal Figurengrup-
pen und Einzelfiguren aus ihrem szenischen Zusam-
menhang oder beschränkte die Zahl der Personen
auf die Hauptfiguren.«54 Neben dem Orientalen in
Chatsworth nennt Tümpel Rembrandts Junge Frau
im Bett (Edinburgh, National Gallery of Scotland)
[Kat. 438, Taf. 93], die er als Sara, Tobias erwartend
deutet, und den 1659 entstandenen Moses, der die Ge-
setzestafeln zerbricht (Berlin, Gemäldegalerie) [Kat.
453, Taf. 96] als Beispiele für Herauslösungen. Die
Deutung der Figuren macht Tümpel durch den Ver-
gleich mit älteren Werken anderer Meister plausibel,
die Rembrandt als Anregung und Vorlagen dienten.55
Im Unterschied zu den Tronien Rembrandts sind
>Moses< und >Sara< in einer bestimmten, eine Be-
wegung beinhaltenden Aktion begriffen, die in der
jeweiligen Geschichte von zentraler Bedeutung ist:
Moses hebt die Gesetzestafeln über den Kopf, um sie
zu zerbrechen, und die im Bett hegende Sara beugt
sich vor, um nach Tobias, ihrem Bräutigam, Aus-
schau zu halten. Durch ihre Nähe zum Betrachter
und dadurch, dass Teile der Umgebung - im ersten
Fall der Berg, im zweiten das Bett - zwar zu sehen,
aber von den engen Bildgrenzen abgeschnitten sind,
wirken die Figuren wie herangezoomt, während das
übrige Geschehen ausgeblendet ist. Der Darstellung

52 RRP 1982-2005, Bd. 3, Kat. Nr. A128, S. 294; Kat. Berlin /
Amsterdam / London 1991/92a, Kat. Nr. 28, S. 208. Der Dar-
gestellte wurde von Valentiner 1948, S. 119-122, als Paracel-
sus; von Bauch 1966, Kat. Nr. 164, als Moses; von Bredius
/ Gerson 1969, Kat. Nr. 179, S. 512; Schwartz 1987, S. 176;
und in RRP 1982-2005, Bd. 3, Kat. Nr. A128, S. 294, in An-
lehnung an Robert Eisler als Uzziah, König von Juda; von
Tümpel 1986, Kat. Nr. 77, S. 398f., als Dan, einer der Stammväter
Israels, und in Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a,
Kat. Nr. 28, S. 208, als >Philosoph der Antike< gedeutet.
53 Zur Malweise des Bildes vgl. RRP 1982-2005, Bd. 3, Kat. Nr.
128, S. 289, 292, 294.
54 Tümpel 1969, S. 161. .Zum Konzept der >Herauslösung< bei

Rembrandt vgl. außerdem Tümpel 1968, S. 113-126; ders.
1969, S. 160-180; ders. 1986, S. 252, 293. Ein vergleichbares
Phänomen findet sich bereits in der religiösen Kunst des
Spätmittelalters und der Renaissance: Im Andachtsbild wur-
den Einzelfiguren oder Figurengruppen aus dem szenischen
Erzählzusammenhang, in dem sie ursprünglich standen,
>herausgelöst< und als Brustbilder oder Halbfiguren präsen-
tiert, vgl. hierzu Ringbom 1965, bes. S. 39-71; Tümpel 1968,
S. 113f.
55 Tümpel 1969, S. 169-178. Zur Deutungsgeschichte der ge-
nannten Bilder vgl. ebd., S. 169, 171, S. 176f., bes. Anm. 137;
Kat. Berlin / Amsterdam / London, 1991/92a, Kat. Nr. 46,
S. 272, Kat. Nr. 36, S. 232.
 
Annotationen