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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0243
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Stellung der Tronie innerhalb der Gattungen

223

stand gehörte weder die Herstellung gemalter Iro-
nien zur Werkvorbereitung oder zu Studienzwecken
noch ihre Anfertigung mit dem Ziel des Verkaufs zur
üblichen Werkstattpraxis der Prärembrandtisten.
Wie wir gesehen haben, änderte sich dies in der
darauf folgenden Generation von Historienmalern.
Demgegenüber treten Meister, in deren Schaffen
bürgerliche Genreszenen einen Schwerpunkt bilden,
wie schon erwähnt, sehr viel seltener als Troniemaler
hervor. Gemälde, die zur Kategorie des »bürgerlichen
Genres< zu rechnen sind, zeigen mit alltäglichen
Verrichtungen beschäftigte oder in Gespräche und
Amüsements involvierte anonyme Figuren in zeitge-
nössischer bürgerlicher Kleidung. Neben fröhlichen
Gesellschaften, galanten Konversationen, musi-
zierenden, Brief lesenden oder schreibenden jungen
Frauen, mit Kindern oder häuslichen Tätigkeiten be-
schäftigten Frauen, Karten oder Schach spielenden
Figuren und vergleichbaren Sujets können hierzu
auch Soldaten- und Wirtshausszenen gerechnet wer-
den, sofern die Figuren durch ihre Kleidung als Mit-
glieder der städtischen Bürgerschaft gekennzeichnet
sind. Viele Vertreter dieses Zweiges der Genremalerei
verzichteten völlig auf eine Betätigung als Historien-
maler oder schufen nur relativ selten entsprechende
Darstellungen. Dies gilt z.B. für Pieter Codde
(1599-1678), Willem Duyster (1599-1635), Antho-
nie Palamedesz. (1601-1673), Gerard Ter Borch
(1617-1681), Quiringh Brekelenkam (nach 1622-
1669? oder danach), Pieter de Hooch (1629-1684),
Jacob Ochtervelt (1634-1682), Caspar Netscher (um
1635/36-1684) und mit Einschränkung auch für
Gabriel Metsu (1629-1669) und Eglon Hendrik van
der Neer (1634-1703), deren GEuvre allerdings einen
größeren Anteil an Historien einschließt.40 Keiner der
genannten Maler scheint Tromen gemalt zu haben,
die sich von einfigurigen Genrebildern in Halbfigur
durch eine stärkere Reduktion des Bildausschnitts
oder das Fortlassen der Attribute unterscheiden.41

Wenn Maler des bürgerlichen Genres - wie z. B. Ver-
meer oder Pieter Quast - Tronien schufen, zeigen
diese meist Figuren in Phantasietracht, die nicht mit
dem Figurenrepertoire bürgerlicher Genreszenen,
sondern vielmehr mit den fiktive Kostüme tragenden
Figuren auf Historien- bzw. Genrebildern in Verbin-
dung zu bringen sind. Die wenigen, tatsächlich der
bürgerlichen Mode gemäß gekleideten Tronien von
Malern wie Frans Hals, seinen Schülern und Nach-
folgern oder von Michael Sweerts machen gegenüber
den Figuren in Phantasietracht, in unspezifischer
oder in bäuerlicher Kleidung im Gesamtbild der in
den Nördlichen Niederlanden verbreiteten Tronien
eine vergleichsweise kleine Gruppe aus.42
Die Gründe, warum Tronien von Malern des bür-
gerlichen Genres im Gegensatz zu anderen Figurenma-
lern nur selten als Bildsujet gewählt wurden, sind nicht
einfach zu benennen. Eine Rolle mag gespielt haben,
dass in der phantasievollen oder exotischen Tracht aus
Sicht der Käufer ein wesentlicher Reiz von Tronien
bestand, entsprechend kostümierte Figuren jedoch
nicht zum Bildrepertoire der betreffenden Genremaler
gehörten. Dieses bot somit keinen mit dem Werk von
Historienmalern vergleichbaren Ausgangspunkt für die
Schöpfung von Tronien. Der einzige Grund kann dies
allerdings nicht gewesen sein, da bekanntlich auch Tro-
nien in unspezifisch-schlichter Tracht oder bäuerlicher
Aufmachung verbreitet waren. Anzunehmen ist, dass
sich die Darstellung von Tronien in konventioneller
bzw. alltäglicher Bürgerstracht deshalb nicht anbot, weil
die Figuren nicht als anonyme Vertreter der realen bür-
gerlichen Lebenssphäre intendiert waren, sondern mit
anderen Bedeutungsgehalten in Verbindung gebracht
wurden.43 Dort, wo dennoch bürgerliche Kleidung ge-
wählt wurde - z.B. im Fall der Tronien von Hals und
Sweerts - stehen zweifellos Aspekte der künstlerischen
Darstellung im Vordergrund,44 nicht aber die Zugehö-
rigkeit der Figuren zu einer bestimmten Schicht der
holländischen Gesellschaft.

40 Zum Werk der genannten Künstler vgl. u. a.: zu G. Ter Borch:
Gudlaugsson 1959/60, 2 Bde.; Kat. Münster 1974; Franits
2004, S. 100-107; Kat. Washington / Detroit 2004/05; zu
Brekelenkam: Lasius 1992; Franits 2004, S. 197-201; zu de
Hooch: Valentiner 1929; Thienen o.J. [ca. 1945]; Sutton
1980; Kat. London / Hartford 1998/99; Kersten 1996;
Liedtke 2001b, S. 132-145; Franits 2004, S. 160-166; zu
Ochtervelt: Kuretsky 1979; Franits 2004, S. 197-201; zu
Netscher: Wieseman 2002; zu Metsu: Kat. Leiden 1966; Ro-
binson 1974; zu van der Neer: Hofstede de Groot 1907-
1928, Bd. 5 (1912), S. 507-562; Kat. Amsterdam 1989/90,
Kat. Nr. 25-30, S. 130-154; Franits 2004, S. 250-253.

41 Als Ausnahme käme ein im RKD (Den Haag) dokumen-
tierter, Brekelenkam zugeschriebener Kopf einer alten Frau
mit weißer Haube (Holz, 20,5 x 16 cm, ehemals Sammlung
Katz, Charlottenburg) in Betracht. Die freie Malweise des
Bildes deutet auf eine Tronie. Ansonsten konnten im RKD
für die genannten Genremaler keine Tronien im strengen
Sinne nachgewiesen werden.
42 Vgl. oben, Kap. III.3.2.
43 Vgl. hierzu unten, Kap. V.
44 Vgl. unten, Kap. V.3.
 
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