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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0325
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Der Einfluss des Bildtyps Tronie auf die Porträtmalerei

297

d. h. durch das an Vorbildern der Antike und älterer
Meister geschulte Vermögen der Auswahl schöner
Einzelformen, zur idealen Bildschöpfung.172
Die Herstellung von Kostümporträts in Tronie-
Manier entspricht insofern dem Konzept des Malens
»uyt den gheest« und mehr noch Junius’ Konzept des
Schöpfens auch unbekannter Dinge aus der Phanta-
sie, als der Künstler in Anlehnung an tatsächlich Ge-
sehenes ein real nicht existierendes Kostüm erfindet.
Der Maler führt der Wirklichkeit oder aber dem Vor-
bild anderer Meister entnommene Versatzstücke re-
aler Kleidung fremder Völker oder der Vergangenheit,
häufig unter Verwendung von Phantasieelementen, zu
einer neuen, letztlich erdachten Einheit zusammen.
Die Phantasiekostüme der Bildnisse entspringen also
der Erfindungsgabe des Künstlers, die in der Kunst-
theorie als eine der wesentlichen Fähigkeiten des His-
torienmalers betrachtet wird.173 Van Mander empfiehlt
den Malern, sich bei der Ausführung von Kostümen
an den Dichtern zu orientieren, er schreibt diesbe-
züglich: »[Het] Schilder pinceel [heeftj te luysteren na
Poeten pen«.174 Damit bewertet der Autor die Krea-
tion interessanter Kostüme als >poetische Erfindung<,
die der Inspiration des Malers zu verdanken ist.175
Es wird deutlich, dass Kostümporträts nicht nur
motivisch und ausführungstechnisch, sondern auch
bezüglich der Art des Schöpfungsprozesses den Fi-
guren auf Historienbildern (und Tronien) ähneln. Sie
werden trotz der Tatsache, dass keine bestimmte Rolle
des oder der Dargestellten indiziert ist, aufgrund ihrer
Kostümierung unmittelbar als Produkte von Historien-

malern und damit aus der Sicht der Zeitgenossen als
Werke universal begabter Künstler kenntlich.176
In der zeitgenössischen Kunstliteratur wurde
Wert darauf gelegt, dass der Historienmaler seine
Figuren mit einer besonders einfalls- und abwechs-
lungsreichen Kostümierung ausstattete.177 Dabei
musste freilich jede Figur entsprechend den Regel
des decorum gekleidet sein. Willem van Goeree for-
dert den Maler zum genauen Studium der Geschichte
auf, damit er in die Lage versetzt werde, die Kostüme
seiner Figuren ihrem Alter, Geschlecht, Stand und
ihrer Nationalität gemäß zu gestalten.178 Auch der
Anspruch auf Authentizität spielte in der zeitgenös-
sischen Diskussion zur Gestaltung der Kostüme auf
Historienbildern also eine Rolle. Bemerkenswert ist
in diesem Zusammenhang, dass Rembrandt die Klei-
dung auf seinen programmatischen Selbstbildnissen
aus den Jahren 1639 [Kat. 475, Taf. 100] und 1640
[Kat. 433, Taf. 92] besonders originalgetreu wieder-
gibt: Die Kostüme können in die Zeit zwischen 1520
und 1530 datiert werden.179 Als authentische, histori-
sierende Tracht ist die Verkleidung, in der Rembrandt
erscheint, Ausweis für seine Fähigkeiten als Histori-
enmaler, denn als solcher musste er Kostüme vergan-
gener Zeiten überzeugend darstellen können. Zudem
diente die Tracht der genannten Selbstbildnisse als
wesentlicher Bezugspunkt für die in der jüngeren
Forschung zunehmend betonte Auseinandersetzung
Rembrandts mit nordischen Vorgängern wie Dürer
und Lucas van Leyden.180 Unabhängig von den in-
haltlichen Implikationen, die das Bild in London [Kat.

172 Mander / Miedema 1973, Bd. 2, S. 330f., Nr. II 9b, S. 435f.,
Nr. II 14f, S. 430f., Nr. II 9b, S. 436f., Nr. II 15b; Schatborn
1993, S. 156. Vgl. außerdem Mander / Miedema 1994-1999,
Bd. 3, S. 143; ders. 1998, Bd. 5, S. 121. Die Auffassung von
Alpers 1985, S. 101f., das Malen »uyt den geest« beinhalte
nach dem Verständnis der Niederländer lediglich die Wie-
dergabe im Gedächtnis gespeicherter Bilder der sichtbaren
Welt, ohne dass der Maler sie mit Hilfe seiner Urteilskraft
umforme, wird van Manders Kunstkonzept nicht gerecht.
173 Zur zeitgenössischen Bewertung der abwechslungsreichen
Gestaltung von Kostümen auf Historienbildern als Zeichen
besonderer Erfindungskraft vgl. Winkel 2006, S. 193f., 204f.
174 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 247 (fol. 45r), Str. 32.
175 Raupp 1980, S. 18, 21, 34, Anm. 84; Raupp 1984, S. 177, Anm.
44, S. 220-226.
176 Vgl. unten, S. 298, Anm. 182.
177 Goeree o.J. [ca. 1680], S. 75f.; Hoogstraten 1678, S. 21, 147-
152; Lairesse 1740, Bd. 2, S. 331—333. In seiner Biographie des
Aert Claesz. van Leyden hebt van Mander vor allem die Kostü¬
me und Kopfbedeckungen der Figuren eines »Durchzugs durch
das Rote Meer« lobend hervor: »en is wonder uytnemende /

van verscheyden cleedinghen / hooft vercieringhen / hoeden /
tulbanden / en hulselen / seer versierlijck om sien.« Mander /
Miedema 1994-1999, Bd. 1, S. 208 (fol. 237v, Z. 35-37).
178 Goeree o.J. [ca. 1680], S. 69, sowie S. 75: »Zoo moet men
ook door het neerstig onderzoeken van de Oudheden en
Historien, alle de voornaemste geschiedenissen weten; op
dat men wel van den inhoud verzekerd zynde, zoodanige
Beeiden van Mannen, Vrouwen, Jongelingen, Maegden,
Knegjes, Meyskens en Kinderkens, als tot zoodanigen geval
beraemelyk zyn, verkiezen kan: en die dan voorts na hun
gezag of staetbekleeding, van Keyzers, Köningen, Prinzen,
Burgemeesteren, Veldoversten, Ridders, Raedsheeren [...]
en meer andere, met hunne eygene kleedingen vercierzelen
en toestellen uytrusten en schikken na de verscheydentheyd
der Natien [...]. Vgl. auch Angel 1642, S. 47; sowie Winkel
1998/99, S. 90.
179 Winkel 1999/2000, S. 68; Winkel 2005, S. 69f.
180 Vgl. Dickey 1994, S. 119-128; Kat. London / Den Haag
1999/2000, Kat. Nr. 54, S. 173-175; Manuth 1999/2000, S.
43f.; Winkel 1999/2000, S. 68-70; Dickey 2004, S. 92-96;
Winkel 2005, S. 69f., 77f.
 
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