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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0353
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Tronien als Ausdrucksträger

325

Van Hoogstraten fordert, dass die Charaktereigen-
schaften der vom Historienmaler darzustellenden
Figuren, etwa die Listigkeit des Odysseus oder die
Kühnheit des Diomedes, unmittelbar an ihren Ge-
sichtern ablesbar sein sollen. Dabei geht er davon
aus, dass ein Künstler einer Figur die ihr innewoh-
nenden Wesenszüge - wie van Hoogstraten im Zu-
sammenhang mit der Nennung des Thersites explizit
erwähnt - geradezu >ins Antlitz hineinmalen< könne.
Dem Hinweis auf die Physiognomik als geeignetes
Hilfsmittel zu diesem Zweck schließen sich Erörte-
rungen zur Mensch-Tier-Analogie an. Van Hoogstra-
ten führt aus, dass »de natuer [...] aen yder Dier een
zweemmg na den aert van zijne neiging gegeven«40
habe. Nach der Aufzählung verschiedener Tiere und
ihrer Eigenschaften legt der Autor seine Einstellung
zur Physiognomik dar, indem er schreibt:
»Zoo dat Paracelsus wel zouw schijnen gelijk te hebben, als hy
zeyt, datmen Honde-menschen, Katte-menschen, Wolve-men-
schen, Leeuwe-menschen, en van allerley aert van diere-menschen
vindt. Maer deze verschillentheit wort men allermeest gewaer in
de beweegingen des gemoets: want dan worden de tronien zoo
veel meer de dieren gelijk, daer zy naer aerden, hoe de bewegende
oorzaek dit of geen dier meer betreft.«41
Wenn van Hoogstraten anmerkt, dass der Mensch
den Tieren im Augenblick des Affektausdrucks am
ähnlichsten sei, drückt sich hierin die Vorstellung
aus, dass sich der Charakter eines Menschen - wel-
cher sich ja gerade anhand des Vergleichs mit Tieren
entschlüsseln lässt - vornehmlich im Moment star-
ker Gefühlsregungen offenbart. Demnach lassen die
Emotionen einer Person auf ihre charakterlichen
Anlagen schließen oder hängen - anders ausgedrückt
- von diesen ab.42 43 Besonders ausführlich wird dieser
Zusammenhang von Willem van Goeree in seinem
Traktat Natuurlyk en Schilderkonstig Ontwerp der
Menschkunde^ (Amsterdam 1682) behandelt. Be-
züglich der pathognomisch habitualisierten Merk-
male des Menschen schreibt der Autor:

»[...] moetmen aanmerken datter zijn aangebooren ken-teeke-
nen, en datter zijn toevallige of aangenomen ken-teekenen [...].
De toevallige ken-teekenen zijn die, welke door ‘t beseffen van
verscheyde saken diemen haat of bemind, dese en geene Trek, en
Merk-teeken volgens de poging van ‘t Gemoed, aan d’opslag van
‘t Gesigt, aan de Ronselen des Voor-Hoofds, schorting der Wing-
braauwen, trek der Mond, snufing der Neus, en anders indruk-
ken, en door dikwils hervat te werden, soo diepe Kreuken setten,
datse na ‘t ophouden van ‘t gang-vaardig Gemoed, noch kenbare
Voetsporen over laten, die met haar oorsprong over een stemmen.
Want het Gemoed des Menschen dikmaal met eenerley, of dees
en gene Lijding weg gerukt, queld en pijnigd de ligt verander-
lijke en gebuygsame Deelen des Lichaams (die voornamelijk in ‘t
Aangesigt gevonden werden) soo lang, tot het Uythang-Bord des
Wesens, met de Winkel-waren die’er binnen te koop zijn, kenbaar
over een stemd. Dus sienwe dat de Liefde, de Nijd en afgunst
ymand schraal en mager maakt; En dat een droeve Geest, als Sa-
lomon segt, de Beenderen verdord.«44
Deutlich wird hier die auf antiker Überlieferung
basierende Auffassung vertreten, dass Gemütsre-
gungen, die regelmäßig auftreten, Spuren im Gesicht
hinterlassen.45 Diese Spuren geben nach van Goerees
Verständnis unmittelbar Auskunft über Wesen und
Charakter eines Menschen und werden damit gleich-
sam zum >Aushängeschild< (»Uythang-Bord«) seiner
Persönlichkeit. Für die Malerei bedeutet dies nicht
zuletzt, dass der Affektausdruck einer Figur auch als
Zeichen für ihren Charakter gedeutet werden kann.
Nicht nur in der Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts
waren Ideen der Physiognomik und Affektenlehre
verbreitet. Verschiedene Äußerungen in Constantijn
Huygens’ Autobiographie von ca. 1629/30 lassen z.B.
darauf schließen, dass dieser - wie sicher auch andere
Kunstliebhaber - mit den entsprechenden Lehren ver-
traut war und sie seine Rezeption der Figurenmalerei
beeinflussten. Im Zusammenhang mit der Behand-
lung der Porträtmalerei betont Huygens, er habe aus
eigener Erfahrung gelernt, dass die Physiognomie ein
Indikator der Seele sei.46 Darüber hinaus widmet er
seinem heute im Amsterdamer Rijksmuseum aufbe-
wahrten, von Jan Lievens geschaffenen Bildnis [Kat.
291, Taf. IV, 62] folgende Zeilen:

40 Hoogstraten 1678, S. 41.
41 Hoogstraten 1678, S. 41f.
42 Wie eng >Charakter< und >Gemütsregungen< einer Person in
der Vorstellung des 17. Jahrhunderts verknüpft waren, zeigt
sich u.a. auch darin, dass den vier Temperamententypen je-
weils bestimmte Affekte zugeordnet wurden, Lütke Notarp
1998, S. 40.
43 Van Goeree beschäftigt sich in diesem Traktat sehr ausführlich
mit der von ihm vorzugsweise als >Sweming< bezeichneten Phy¬
siognomik als für den Künstler nützliche Wissenschaft, Goeree
1682, S. 187—209. Neben >Sweming< verwendet van Goeree auch

die Begriffe >Kroost-kunde< und >Tronie-kunde<, vgl. bes. ebd.,
S. 187.
44 Goeree 1682, S. 195f.
45 Diese Ansicht vertritt bereits Leonardo da Vinci, vgl. Reisser
1997, S. 125-131,276-294.
46 Huygens / Worp 1891, S. 121: »Phijsionomiam enim, quid-
quid obstrepatur, singulare animi indicium dare, non tarn
praeceptis aliorum, quam usu proprio, multäque attentione di-
dici.« Vgl. auch die Übersetzungen bei Huygens / Kan 1971,
S. 75; Huygens / Heesakkers 1987, S. 81f.; Schwartz 1989, S.
102.
 
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