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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0360
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332

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

einer Serie werden die individuellen Charakteristika
der Dargestellten besonders betont.91 Lievens’ große
Tronie-Serie, die sieben nummerierte Blätter um-
fasst,92 enthält z.B. zwei Brustbilder junger Männer
und fünf Tronien von Greisen [Kat. 323, 325-327,
Taf. 69, Kat. 324]. Die Herausarbeitung der Alters-
spuren in den Physiognomien der Greise erfährt
durch die Gegenüberstellung mit den jugendlichen
Gesichtern der Figuren auf dem ersten und dem letz-
ten Blatt der Serie eine deutliche Akzentuierung. Des
Weiteren sind die Figuren mit nur einer einzigen Aus-
nahme im Profil dargestellt - eine Präsentationsweise,
die bereits im 16. Jahrhundert für gezeichnete Physio-
gnomiestudien sowie die gedruckten Illustrationen in
physiognomischen Handbüchern typisch war.93 Eine
Erklärung für die Favorisierung der Profilansicht der
Figuren, die man auch in den physiognomischen Ab-
handlungen des 17. Jahrhunderts antrifft,94 bietet eine
Textstelle aus van Goerees Menschkunde (Amsterdam
1682). Der Autor ist davon überzeugt, dass sich gerade
im Profil eines Menschen die charakteristischen Züge
seiner Physiognomie am deutlichsten offenbaren:
»Het is seker, en wy onderstellen ‘t ook als een gemeene Waar-
heyd, dat de meeste veranderlijkheyd der Tronien slegts bestaat
in vier opmerkelijke Partyen of gedeelten die een Tronie uytma-
ken: Namelijk in het Voor-Hoofd, de Neus, de Mond met de Kin:
Welke Partyen, wanneerse op zy gesien werden, de opmerkelijkste
en kenbaarste Trekken uyt leveren. «95
Die Verwendung der Profilansicht und die besonders
charakteristischen Physiognomien der radierten Tro-
nien Lievens’ lassen in Verbindung mit ihrer seriel-
len Zusammenstellung96 einen Zusammenhang mit
der Tradition der seit der Renaissance verbreiteten

Physiognomie- oder Charakterstudien vermuten.
Als lohnend dürfte sich in dieser Hinsicht die Unter-
suchung der Frage erweisen, ob und inwiefern eine
Verbindung zwischen Lievens’ Radierungen und
den gezeichneten Charakterstudien Albrecht Dürers
oder Leonardo da Vincis besteht.97 Im Rahmen die-
ser Studie kann dem allerdings nicht näher nachge-
gangen werden.
Em weiteres Indiz dafür, dass eine wesentliche In-
tention von Troniemalern die Darstellung von >Cha-
rakter< beinhaltete, ist das überdurchschnittlich häu-
fige Vorkommen greiser Tronien. Bei mehr als der
Hälfte der von Lievens in Leiden gemalten Tronien
handelt es sich um Brustbilder von Greisen und Grei-
sinnen. Auch im CEuvre Rembrandts überwiegen die
Darstellungen alter Menschen gegenüber der Anzahl
aller übrigen Tronien des Meisters - klammert man
die Selbstdarstellungen einmal aus. Die >Seele< oder
der >Charakter< eines Menschen manifestierte sich
nach zeitgenössischer Vorstellung gerade im alten Ge-
sicht, weil sich darin pathognomisch habitualisierte
Merkmale besonders deutlich abzeichneten. Letzteres
war deshalb der Fall, weil ein alter Mensch bestimmte
Bewegungen der Gesichtsmuskeln, welche durch die
sein Wesen prägenden Affekte erzeugt wurden, über
den langen Zeitraum seines gesamten Leben wieder-
holt hatte.98 Die zerfurchten Gesichter der Tronien
greiser Modelle konnten somit bereits im 17. Jahr-
hundert im wahrsten Sinne des Wortes als >Charakter-
köpfe< gelten. Selbst wenn die Charaktereigenschaften
der Figuren nicht auf schlagwortartig zu benennende
Begriffe, etwa im Sinne der Temperamentenlehre,99
festgelegt waren, ging es den Malern doch zweifellos
darum, das >Wesen< der Dargestellten einzufangen.

91 Vgl. auch Michael Sweerts’ Serie der Diversae facies in usum
iuvenum et aliorum (Brüssel 1656). Diese umfasst neben der
Titelseite 12 Stiche mit Brustbildern von Kindern, Männern
und Frauen nach Modellen unterschiedlichen Alters und mit
stark differierender Physiognomie. Zu Sweerts Serie und ih-
rer Funktion als Vorlage für die Übungen von Malerlehrlin-
gen vgl. Bolten 1985, S. 96-99, 254f.; Kultzen 1996, S. 57f.;
Tainturier 2001; Sutton 2002, S. 22; Luijten 2002, Kat. Nr.
P9-21, S. 174-177.
92 Hollstein’s Dutci-i and Flemisi-i Etchings 1949ff., Bd. 11
(o.J.), Kat. Nr. 33-36, S. 32-35, Kat. Nr. 39-41, S. 37-39. Zu
Lievens’ Trome-Senen vgl. Kat. Amsterdam 1988/89, S. 17
u. Kat. Nr. 22-26, S. 49-51.
93 Zu entsprechenden physiognomischen Studien von und nach
Leonardo und Dürer vgl. u.a. Muylle 1994; Kwakkelstein
1991; Kwakkelstein 1994, S. 93-121; Reisser 1997, S. 276-
308. Für physiognomische Handbücher der Renaissance, in
denen die illustrierenden Figuren besonders häufig in Profil¬

ansicht dargestellt werden, vgl. z.B. die Abbildungen in In-
dagine 1523; Cocles 1533; teilweise abgebildet bei Reisser
1997, Abb. 2.a-i, Abb. 6.a-o. Zu den beiden Handbüchern
vgl. ebd., S. 67-88.
94 Vgl. z.B. die Abbildungen bei Goeree 1682, S. 206, 208.
95 Goeree 1682, S. 203 (Hervorhebung von der Verf.).
96 Seit der Renaissance diente die Einbindung in eine Serie viel-
fach als Bezugsrahmen für physiognomische Studien. Vgl.
z.B. Bolten 1985, S. 22-25, Kat. Nr. 7-11; Reisser 1997, S.
304-308; Muylle 2001, bes. S. 176-193.
97 Vgl. oben, S. 332, Anm. 93.
98 Zur Vorstellung, dass die Gefühlsregungen eines Menschen
und deren Artikulation unmittelbar von seinem Charakter
abhingen, vgl. oben, Kap. V.2.1.
99 Zu den mit den vier verschiedenen Konstitutionstypen ver-
bundenen Gestaltmerkmalen und Charaktereigenschaften
vgl. Lütke Notarp 1998, bes. S. 71-74, 116-120, 162-184,
244-252, 282; Reisser 1997, S. 231-241.
 
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