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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0359

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Tronien als Ausdrucksträger

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stücke im Sinne der Vorbereitung auf die Aufgaben
eines Historienmalers fungierten.86 Was die Radie-
rungen angeht, sollte der Studienhafte Charakter der
Werke jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie
durch ihre druckgraphische Vervielfältigung einem
größeren Publikum zugänglich waren und auf dem
freien Markt gehandelt wurden. Rembrandt schul-
te eben nicht nur das eigene Darstellungsvermögen
anhand solcher Werke, sondern nutzte sie darüber
hinaus auch gezielt zur Demonstration seiner Fähig-
keiten als Historienmaler.
Tronien waren also einerseits als Übungsstücke
geeignet, anhand derer der angehende Historien-
oder Genremaler die Darstellung der Affekte erpro-
ben konnte.87 Andererseits wurden Brustbilder und
Halbfiguren, deren wesentliches Kennzeichen in der
Artikulation einer Gefühlsregung besteht, jedoch
auch als selbständige Kunstwerke für den Verkauf
hergestellt. Hierfür spricht die hohe Produktivität
bestimmter Künstler auf diesem Gebiet,88 aber auch
die druckgraphische Verbreitung im Affekt begrif-
fener Tronien. Darüber hinaus belegen Inventarlis-
ten, die entsprechende Tronien aufführen, das In-
teresse der Käufer an solchen Werken.89 Die Bilder
dokumentierten nicht nur die Kunstfertigkeit eines
Malers, sondern boten dem Betrachter auch die
Möglichkeit zur Affektdeutung. Dass die Zeitgenos-
sen Gefallen daran fanden, im Gemälde dargestellte
Emotionen zu studieren und zu interpretieren, wird
nicht zuletzt in Huygens’ Beschreibung von Rem-
brandts Judasbild offenbar. Darüber hinaus waren
die Besitzer von Genre- und Historienbildern es ge-
wohnt, die Gemütsregungen der Protagonisten zu
deuten. Tronien dürften in dieser Hinsicht aufgrund
des fehlenden narrativen Kontextes eine besondere
Herausforderung dargestellt haben.
Frederic Schwartz ist der Auffassung, dass »the tronie
tends to portray internal psychological States - worry,
amusement, pride, contemplation.«90 Tatsächlich
zeigt ein ausgesprochen großer Teil der erhaltenen
Tronien im Unterschied zu den bisher behandelten

Werken jedoch einen als >neutral< zu charakteri-
sierenden Gesichtsausdruck, der keine emotionale
Regung erkennen lässt. Zwar kann man die >Gemüts-
lage< bzw. den >Ausdruck< der entsprechenden Fi-
guren mit Begriffen wie >ruhig<, >ernst< oder >würde-
voll< beschreiben, doch weichen die Bilder in dieser
Hinsicht nicht wesentlich von der für Porträts üb-
lichen Gestaltungsweise ab, so dass es nicht sinnvoll
ist, sie zu den Möglichkeiten und Anforderungen
der Affektdarstellung im Historien- oder Genrebild
in Beziehung zu setzen. Einschränkend ist darauf
hinzuweisen, dass die Grenze zu Tronien, die als
nachdenklich, melancholisch oder gedankenverloren
gelten können, nicht immer eindeutig zu bestimmen
ist.
Im vorhergehenden Kapitel wurde dargelegt, dass
auch em Gesicht, in dem sich kein bestimmter Affekt
abzeichnet, vom Betrachter des 17. Jahrhunderts als
>Ausdrucksträger< verstanden werden konnte, indem
man den physiognomischen Merkmalen einer Person
Aussagekraft hinsichtlich ihrer psychischen Disposi-
tion und charakterlichen Eigenschaften zuschrieb.
Leider existieren keine schriftlichen Quellen, die
darüber informieren, ob das zeitgenössische Publi-
kum physiognomische Deutungsweisen bei der Be-
trachtung von Tronien anwandte. Da die Maler der
Werke sich vielfach einer begrenzten Auswahl le-
bender Modelle bedienten, ist auszuschließen, dass
die Figuren als exemplarische Vertreter der in phy-
siognomischen Schriften aufgeführten Charakter-
typen konzipiert waren, ihre Gestaltung also einem
bestimmten Regelsystem charakterologischer Typik
folgte. Gegen diese Annahme spricht insbesondere
die Tatsache, dass die meisten Troniemaler auf die
Typisierung ihrer Figuren zugunsten naturgetreuer
Darstellungsweise verzichteten.
Nichtsdestoweniger ist die Visualisierung von
>Charakter< als wesentliche Zielsetzung der Künstler
zu betrachten. So zeugen etwa Jan Lievens’ radierte
Tronie-Serien von einem ausgeprägten physiogno-
mischen Interesse: Durch die Kontrastierung unter-
schiedlicher Figuren- bzw. Gesichtstypen innerhalb

86 Vgl. oben, Kap. II.1.1, S. 42, Kap. II.1.5, S. 54, Kap. II.3.4, S.
109f.
87 Vgl. auch oben, Kap. III.1.4.
88 Lievens z. B. malte eine große Zahl von Greisenköpfen mit
nachdenklich-melancholischem Gesichtsausdruck, vgl. u.a.
Kat. 302-303, Taf. 63, Kat. 300, 310.

89 Vgl. oben, Kap. II.3.2, S. 102, Anm. 12, sowie Strauss / Meu-
len 1979, Dok. 1661/11, S. 491 (Inv. Willem van Campen,
Amsterdam 10.10.1661): »een crijtend vroutgen van Rem-
brant«. Vgl. Bredius 1915-1922, Bd. 4, S. 119. Zur Identifi-
zierung des in van Campens Inventar genannten Bildes vgl.
Bruyn 1989, S. 24, Anm. 56; Bruyn 1991/92, S. 80, 89, Anm.
72; Franken 1997, S. 69, 73, Anm. 10.
90 Schwartz 1989, S. 96.
 
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