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Huizinga, Johan
Herbst des Mittelalters: Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. u. 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden — München: Drei-Masken-Verl., 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.49575#0110
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92

VIERTES KAPITEL

und Festtagen macht er zu Fuß eine Wallfahrt oder läßt sich aus dem
Leben der Heiligen vorlesen, oder aus den Geschichten „des vaillans
trespassez, soit Romains ou autres“, oder er hält mit andern fromme
Gespräche. Er ist mäßig und frugal, spricht wenig und meist über Gott,
die Heiligen, die Tugend, oder die Ritterlichkeit. Auch all seine Diener
hat er zu Devotion un’d Anstand erzogen und ihnen das Fluchen ab-
gewöhnt1). Er ist ein eifriger Verfechter des edlen, keuschen Frauen-
dienstes; er ehrt alle um einer willen und gründet den Orden „de l’ecu
verd ä la dame blanche“, zur Verteidigung der Frauen, was ihm das
Lob von Christine de Pisan einbrachte2). Zu Genua, wohin er 1401
kam, um für Karl VI. die Regierung zu leiten, erwiderte er einst höflich
die Verbeugungen zweier Damen, die ihm begegneten: „Monseigneur“
sagte sein Schildknappe, „qui sont ces deux femmes ä qui vous avez
si grans reverences faictes? — Huguenin, dit-il, je ne s^ay.“ Lors hiy
dist: „Monseigneur, elles sont filles communes.“ — „Filles communes
dist-il, Huguenin, j’ayme trop mieulx faire reverence ä dix filles com-
munes que avoir failly ä une femme de bien “3). Sein Wahlspruch lautet:
„Ce que vous vouldrez“, absichtlich geheimnisvoll, wie es sich für einen
Wahlspruch gehört. Meint er die Hingabe seines Willens an die Dame,
der seine Treue gewidmet war, oder muß man eine allgemeine Ge-
lassenheit dem Leben gegenüber darin sehen, so wie man sie erst in
viel späteren Zeiten erwarten würde?
In solchen Farben der Frömmigkeit und Zurückhaltung, Schlicht-
heit und Treue malte man das schöne Bild des idealen Ritters. Daß
der wirkliche Boucicaut diesem nicht in jeder Hinsicht entsprach, war
zu erwarten. Die Gewalttätigkeit und Geldgier, so gang und gäbe in
seinem Stande, waren auch dieser edlen Gestalt nicht unbekannt4).
Der Musterritter wird jedoch auch in einer ganz andern Schattierung
gesehen. Der biographische Roman über Jean de Bueil, „Le Jouven-
cel“ genannt, wurde ungefähr ein halbes Jahrhundert später als das
Leben von Boucicaut geschrieben, und dies erklärt zum Teil den Unter-
*) Ib., VII, p. 214, 185, 200—201.
2) Chr. de Pisan, Le debat des deux amants, Oeuvres poetiques, II, p. 96.
3) Antoine de la Salle, La salade, chap. 3, Paris, M. le Noir, 1521, f. 4 vso.
*) Le livre des cent ballades, ed. G. Raynaud (Soc. des anciens textes
fran^ais), p. lv.
 
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