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Huizinga, Johan
Herbst des Mittelalters: Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. u. 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden — München: Drei-Masken-Verl., 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.49575#0113
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DER RITTERGEDANKE

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schied in der Auffassung. Jean de Bueil war ein Kapitän, der unter der
Fahne der Jeanne d’Arc gekämpft hatte, später an dem Aufstand der
Praguerie (1440) und dem Krieg „du bien public“ beteiligt war, und 1477
starb. In Ungnade beim König, hat er um 1465 bei dreien seiner Diener
einen Bericht seines Lebens angeregt, „Le Jouvencel“1) betitelt. Im
Gegensatz zu dem Leben Boucicauts, in welchem die historische Form
einen romantischen Geist birgt, hat „Le Jouvencel“ bei einer erdich-
teten Form reelle Züge, wenigstens im ersten Teil. Es hängt wahr-
scheinlich mit der größeren Anzahl der Verfasser zusammen, daß das
Werk weiterhin in einer süßlichen Romantik verläuft. Da ist der
grauenerweckende Zug der französischen Kriegsbanden auf Schweizer
Gebiet 1444, und die Schlacht bei Sankt Jakob an der Birs, wo die
Bauern des Baseler Landes ihr Thermopylae fanden, verkleidet in den
eiteln Aufputz einer abgedroschenen schäferlichen Minnedichtung.
In starkem Gegensatz dazu gibt der erste Teil von Le Jouvencel
ein so schlichtes und echtes Bild von der Wirklichkeit des damaligen
Krieges, wie es kaum sonst irgendwo zu finden ist. Auch diese Verfasser
sprechen übrigens nicht von Jeanne d’Arc, mit der ihr Meister doch
in Waffenbrüderschaft gestanden hatte; es sind seine eigenen Helden-
taten, die sie verherrlichen. Wie gut jedoch muß dieser ihnen seine
Kriegstaten geschildert haben. Hier kündigt sich der Geist des militä-
rischen Frankreichs an, der später die Gestalten des mousquetaire,
des grognard und des poilu hervorbringen wird. Die ritterliche Ab-
sicht verrät nur der Anfang, der die jungen Leute dazu anspornt, aus
diesem Werke das Leben in den Waffen kennen zu lernen, das sie
warnt vor Hochmut, Neid und Habgier. Sowohl das fromme als auch
das Element der Minne Boucicauts fehlen im ersten Teil von Le Jou-
vencel. Was uns hier entgegentritt, ist die Armseligkeit des Krieges,
seine Entbehrungen und Eintönigkeit und der frische Mut, Entbeh-
rungen zu ertragen und Gefahren zu bestehen. Ein Schloßvogt ver-
sammelt seine Garnison und zählt nur fünfzehn Pferde, magere Gäule;
die meisten sind unbeschlagen. Er setzt auf jedes Pferd zwei Männer,
aber auch von diesen sind die meisten einäugig oder Krüppel. Um die
Kleider des Kapitäns ausbessern zu können, sucht man die Wäsche

x) Le Jouvencel, I, p. 25.
 
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