346 ACHTZEHNTES KAPITEL
Augen zu stellen. — Wie empfindlich man gegen den Inhalt der an
den Wänden prangenden Darstellungen war, möge aus folgendem Fall
hervorgehen. In Lelinghem wurde 1384 eine Zusammenkunft abge-
halten, die zu einem Waffenstillstand zwischen Frankreich und Eng-
land führen sollte. Der Herzog von Berry läßt die kahlen Mauern der
alten Kapelle, in welcher die fürstlichen Unterhändler sich treffen
sollen, mit Teppichen, auf welchen Schlachten aus dem Altertum dar-
gestellt sind, behängen. Als aber der Herzog von Lancaster, John of
Gaunt, sie beim ersten Eintreten gewahr wird, will er, daß die Kampf-
szenen entfernt werden: sie, die nach dem Frieden trachten, dürfen
nicht Krieg und Vernichtung vor Augen haben. Und es werden
andere Teppiche aufgehängt, auf denen die Leidenswerkzeuge des
Herrn abgebildet sind1).
Die praktische Bedeutung des Gegenstandes ist unverbrüchlich mit
dem Porträt verbunden, das bis auf den heutigen Tag seinen morali-
schen Wert als Familienstück beibehält, weil die Lebensgefühle, denen
es dienstbar ist, Elternliebe und Familienstolz, viel weniger verbraucht
sind als die Formen des sozialen Lebens, zu welchen die Gerichtsszene
gehörte. Das Porträt hatte außerdem n och oft den Zweck, die gegenseitige
Bekanntschaft beiVerlobungen zu vermitteln. Zu der Gesandtschaft, die
Philipp der Gute 1428 nach Portugal sandte, um eine Braut für ihn zu
werben, gehörte auch Jan van Eyck, der das Porträt der Prinzessin
malen sollte. Die Fiktion wird manchmal aufrecht erhalten, als hätte der
fürstliche Bräutigam nur durch den Anblick des Porträts die unbe-
kannte Prinzessin liebgewonnen, wie z. B. bei der Werbung Richards II.
von England um die sechsjährige Isabella von Frankreich ’2). Es ist
sogar gelegentlich die Rede von einer Wahl durch Vergleichung ver-
schiedener Porträts. Als der junge Karl VI. von Frankreich eine Ge-
mahlin haben soll und man zwischen einer Herzogstochter von Bayern,
Österreich und Lothringen schwankt, da wird ein ausgezeichneter
Maler ausgesandt, um von allen dreien Porträts zu machen. Man legt
sie dem König vor, und er wählt die vierzehnjährige Isabella von
Bayern, die er bei weitem am schönsten findet3).
1) Rel. de S. Denis, II, p. 78.
2) Rel. de S. Denis, II, p. 413.
3) L. c., I, p. 358.
Augen zu stellen. — Wie empfindlich man gegen den Inhalt der an
den Wänden prangenden Darstellungen war, möge aus folgendem Fall
hervorgehen. In Lelinghem wurde 1384 eine Zusammenkunft abge-
halten, die zu einem Waffenstillstand zwischen Frankreich und Eng-
land führen sollte. Der Herzog von Berry läßt die kahlen Mauern der
alten Kapelle, in welcher die fürstlichen Unterhändler sich treffen
sollen, mit Teppichen, auf welchen Schlachten aus dem Altertum dar-
gestellt sind, behängen. Als aber der Herzog von Lancaster, John of
Gaunt, sie beim ersten Eintreten gewahr wird, will er, daß die Kampf-
szenen entfernt werden: sie, die nach dem Frieden trachten, dürfen
nicht Krieg und Vernichtung vor Augen haben. Und es werden
andere Teppiche aufgehängt, auf denen die Leidenswerkzeuge des
Herrn abgebildet sind1).
Die praktische Bedeutung des Gegenstandes ist unverbrüchlich mit
dem Porträt verbunden, das bis auf den heutigen Tag seinen morali-
schen Wert als Familienstück beibehält, weil die Lebensgefühle, denen
es dienstbar ist, Elternliebe und Familienstolz, viel weniger verbraucht
sind als die Formen des sozialen Lebens, zu welchen die Gerichtsszene
gehörte. Das Porträt hatte außerdem n och oft den Zweck, die gegenseitige
Bekanntschaft beiVerlobungen zu vermitteln. Zu der Gesandtschaft, die
Philipp der Gute 1428 nach Portugal sandte, um eine Braut für ihn zu
werben, gehörte auch Jan van Eyck, der das Porträt der Prinzessin
malen sollte. Die Fiktion wird manchmal aufrecht erhalten, als hätte der
fürstliche Bräutigam nur durch den Anblick des Porträts die unbe-
kannte Prinzessin liebgewonnen, wie z. B. bei der Werbung Richards II.
von England um die sechsjährige Isabella von Frankreich ’2). Es ist
sogar gelegentlich die Rede von einer Wahl durch Vergleichung ver-
schiedener Porträts. Als der junge Karl VI. von Frankreich eine Ge-
mahlin haben soll und man zwischen einer Herzogstochter von Bayern,
Österreich und Lothringen schwankt, da wird ein ausgezeichneter
Maler ausgesandt, um von allen dreien Porträts zu machen. Man legt
sie dem König vor, und er wählt die vierzehnjährige Isabella von
Bayern, die er bei weitem am schönsten findet3).
1) Rel. de S. Denis, II, p. 78.
2) Rel. de S. Denis, II, p. 413.
3) L. c., I, p. 358.