DIE KUNST IM LEBEN
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Nirgendwo ist die Bestimmung des Kunstwerks so überwiegend
praktischer Art als wie beim Grabmal, an welchem die Skulptur jener
Zeit ihre höchste Aufgabe fand. Und nicht nur die Bildhaukunst: das
heftige Bedürfnis nach einem sichtbaren Bild des Verstorbenen mußte
auch schon bei der Bestattung befriedigt werden. Manchmal wurde
der Verstorbene von einem lebenden Menschen dargestellt; bei der
Leichenfeier für Bertran du Guesclin zu Saint Denis erscheinen vier
geharnischte Ritter zuPferde in der Kirche, „representans la personne
du mort quand il vivoiU1). Eine Rechnung v. J. 1375 erwähnt eine
Leichenfeierlichkeit im Hause von Polignac: „cinq sols ä Blaise pour
avoir fait le Chevalier mort ä la sepulture“2). Bei den königlichen Be-
gräbnissen ist es meistens eine lederne Puppe, ganz mit fürstlichem
Staat angetan, wobei nach großer Ähnlichkeit gestrebt wird3). Manch-
mal gibt es sogar, wie es scheint, mehr als eins solcher Bildnisse im
Gefolge. Die Ergriffenheit des Volkes konzentriert sich auf den An-
blick jener Bilder4). Der Totenmaske, die im fünfzehnten Jahrhundert
in Frankreich aufkommt, hat möglicherweise die Anfertigung dieser
Leichenbegängnispuppen zum Ausgangspunkt gedient.
Der Auftrag eines Kunstwerks hat fast immer einen Zweck, eine
praktische Bestimmung für das tägliche Leben. Hierdurch wird die
Grenze zwischen der frei bildenden Kunst und dem Kunsthandwerk
tatsächlich ausgewischt oder besser gesagt, sie ist noch nicht gezogen.
Auch in bezug auf die Person der Künstler selbst besteht diese
Grenze noch nicht. Bei der Schar sehr individueller Meister im Hof-
dienst von Flandern, Berry und Burgund wechselt das Malen selb-
ständiger Bilder nicht nur mit dem Illustrieren von Handschriften und
*) Rel. de S. Denis, I, p. 600; Juvenal des Ursins, p. 379.
2) La Curne de Ste. Palaye, I, p. 388; vgl. auch Journal d’un bourgeois de
Paris, p, 67.
s) Bourgeois de Paris, p. 179 (Karl VI.); 309 (Isabella von Bayern); Cha-
stellain, IV, p. 42 (Karl VII.), I, p. 332 (Henry V.); Lefevre de S. Remy, II,
p. 65; M. d’Escouchy, II, p. 424, 432; Chron. scand., I, p. 21; Jean Chartier,
p. 319 (Karl VII.); Quatrebarbes, Oeuvres du roi Rene, I, p. 129; Gaguini com-
pendium super Francorum gestis, ed. Paris, 1500, Begräbnis von Karl VIII.,
f. 164.
4) Martial d’Auvergne, Vigilles de Charles VII. Les poesies de Martial de
Paris, dit d’Auvergne, Paris, 1724, 2 vol., II, p. 170.
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Nirgendwo ist die Bestimmung des Kunstwerks so überwiegend
praktischer Art als wie beim Grabmal, an welchem die Skulptur jener
Zeit ihre höchste Aufgabe fand. Und nicht nur die Bildhaukunst: das
heftige Bedürfnis nach einem sichtbaren Bild des Verstorbenen mußte
auch schon bei der Bestattung befriedigt werden. Manchmal wurde
der Verstorbene von einem lebenden Menschen dargestellt; bei der
Leichenfeier für Bertran du Guesclin zu Saint Denis erscheinen vier
geharnischte Ritter zuPferde in der Kirche, „representans la personne
du mort quand il vivoiU1). Eine Rechnung v. J. 1375 erwähnt eine
Leichenfeierlichkeit im Hause von Polignac: „cinq sols ä Blaise pour
avoir fait le Chevalier mort ä la sepulture“2). Bei den königlichen Be-
gräbnissen ist es meistens eine lederne Puppe, ganz mit fürstlichem
Staat angetan, wobei nach großer Ähnlichkeit gestrebt wird3). Manch-
mal gibt es sogar, wie es scheint, mehr als eins solcher Bildnisse im
Gefolge. Die Ergriffenheit des Volkes konzentriert sich auf den An-
blick jener Bilder4). Der Totenmaske, die im fünfzehnten Jahrhundert
in Frankreich aufkommt, hat möglicherweise die Anfertigung dieser
Leichenbegängnispuppen zum Ausgangspunkt gedient.
Der Auftrag eines Kunstwerks hat fast immer einen Zweck, eine
praktische Bestimmung für das tägliche Leben. Hierdurch wird die
Grenze zwischen der frei bildenden Kunst und dem Kunsthandwerk
tatsächlich ausgewischt oder besser gesagt, sie ist noch nicht gezogen.
Auch in bezug auf die Person der Künstler selbst besteht diese
Grenze noch nicht. Bei der Schar sehr individueller Meister im Hof-
dienst von Flandern, Berry und Burgund wechselt das Malen selb-
ständiger Bilder nicht nur mit dem Illustrieren von Handschriften und
*) Rel. de S. Denis, I, p. 600; Juvenal des Ursins, p. 379.
2) La Curne de Ste. Palaye, I, p. 388; vgl. auch Journal d’un bourgeois de
Paris, p, 67.
s) Bourgeois de Paris, p. 179 (Karl VI.); 309 (Isabella von Bayern); Cha-
stellain, IV, p. 42 (Karl VII.), I, p. 332 (Henry V.); Lefevre de S. Remy, II,
p. 65; M. d’Escouchy, II, p. 424, 432; Chron. scand., I, p. 21; Jean Chartier,
p. 319 (Karl VII.); Quatrebarbes, Oeuvres du roi Rene, I, p. 129; Gaguini com-
pendium super Francorum gestis, ed. Paris, 1500, Begräbnis von Karl VIII.,
f. 164.
4) Martial d’Auvergne, Vigilles de Charles VII. Les poesies de Martial de
Paris, dit d’Auvergne, Paris, 1724, 2 vol., II, p. 170.