Zwanzigstes Kapitel
Bild und Wort
I
Bei jedem Versuch, der gemacht ist, Mittelalter und Renaissance rein-
lich von einander zu scheiden, wichen die Grenzen scheinbar immer
weiter zurück. Man gewahrte im fernen Mittelalter Formen und Be-
wegungen, die schon den Stempel der Renaissance zu tragen schienen,
und der Begriff Renaissance wurde, um auch diese Erscheinungen mit
umfassen zu können, derartig ausgereckt, bis er all seine Spannkraft
einbüßte3). Allein dies gilt auch für das Gegenteil: wer ohne vor-
gefaßtes Schema den Geist der Renaissance in sich aufnimmt, findet
viel mehr „Mittelalterliches“ darin, als die Theorie gestatten zu wollen
scheint. Ariost, Rabelais, Margarete von Navarra, Castiglione, wie
auch die gesamte bildende Kunst, sind nach Form und Inhalt voll
von mittelalterlichen Elementen. Und dennoch bleibt der Gegensatz
für uns bestehen: Mittelalter und Renaissance sind für uns Aus-
drücke, in denen wir die Verschiedenartigkeit im Wesen einer Zeit
genau so deutlich verspüren wie den Unterschied zwischen Apfel und
Erdbeere, während es trotzdem fast unmöglich bleibt, diesen Unter-
schied näher zu umschreiben.
Aber es ist notwendig, den Begriff Renaissance (der nicht wie das
Mittelalter schon in sich eine einschränkende Zeitgrenze einschließt)
soviel wie möglich auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückzuführen.
Es ist durchaus zu verwerfen, mit Fierens Gevaert2) und andern
Sluter und van Eyck zur Renaissance zu rechnen. Sie schmecken
ganz nach dem Mittelalter. Und sind auch nach Form und Inhalt
mittelalterlich. Dem Inhalt nach, weil ihre Kunst an Stoff, Gedanken
und Bestimmung nichts vom Alten abgelegt, nichts Neues aufgenom-
2) La Renaissance septentrionale et les premiers maitres des Flandres,
x) Siehe hierüber meine Renaissancestudien 1: Hetprobleem,deGidsl920,IV.
Bruxelles 1905.
Bild und Wort
I
Bei jedem Versuch, der gemacht ist, Mittelalter und Renaissance rein-
lich von einander zu scheiden, wichen die Grenzen scheinbar immer
weiter zurück. Man gewahrte im fernen Mittelalter Formen und Be-
wegungen, die schon den Stempel der Renaissance zu tragen schienen,
und der Begriff Renaissance wurde, um auch diese Erscheinungen mit
umfassen zu können, derartig ausgereckt, bis er all seine Spannkraft
einbüßte3). Allein dies gilt auch für das Gegenteil: wer ohne vor-
gefaßtes Schema den Geist der Renaissance in sich aufnimmt, findet
viel mehr „Mittelalterliches“ darin, als die Theorie gestatten zu wollen
scheint. Ariost, Rabelais, Margarete von Navarra, Castiglione, wie
auch die gesamte bildende Kunst, sind nach Form und Inhalt voll
von mittelalterlichen Elementen. Und dennoch bleibt der Gegensatz
für uns bestehen: Mittelalter und Renaissance sind für uns Aus-
drücke, in denen wir die Verschiedenartigkeit im Wesen einer Zeit
genau so deutlich verspüren wie den Unterschied zwischen Apfel und
Erdbeere, während es trotzdem fast unmöglich bleibt, diesen Unter-
schied näher zu umschreiben.
Aber es ist notwendig, den Begriff Renaissance (der nicht wie das
Mittelalter schon in sich eine einschränkende Zeitgrenze einschließt)
soviel wie möglich auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückzuführen.
Es ist durchaus zu verwerfen, mit Fierens Gevaert2) und andern
Sluter und van Eyck zur Renaissance zu rechnen. Sie schmecken
ganz nach dem Mittelalter. Und sind auch nach Form und Inhalt
mittelalterlich. Dem Inhalt nach, weil ihre Kunst an Stoff, Gedanken
und Bestimmung nichts vom Alten abgelegt, nichts Neues aufgenom-
2) La Renaissance septentrionale et les premiers maitres des Flandres,
x) Siehe hierüber meine Renaissancestudien 1: Hetprobleem,deGidsl920,IV.
Bruxelles 1905.