Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Siebzehntes Kapitel
Die Denkformen im praktischen Leben
Um den mittelalterlichen Geist als eine Einheit und ein Ganzes
zu verstehen, muß man die festen Formen des Denkens nicht nur
an den Glaubensvorstellungen und der höheren Spekulation, sondern
auch an den Vorstellungen der täglichen Lebensklugheit und der
nüchternen Praxis studieren. Denn sowohl seine höheren, als auch
seine gewöhnlicheren Äußerungen werden von denselben großen Denk-
richtungen beherrscht Und während auf dem Gebiet des Glaubens
und der Spekulation immer die Frage offen bleibt, inwieweit die Ge-
dankenformen Resultat und Echo einer langen schriftlichen Tradition
sind, die bis zu griechischen und jüdischen, ja ägyptischen und baby-
lonischen Ursprüngen zurückreicht, sieht man sie im gewöhnlichen
Leben in ihrer naiven und spontanen Wirkung, nicht belastet mit dem
Gewicht des Neuplatonismus und alles übrigen.
Im täglichen Leben denkt der mittelalterliche Mensch in denselben
Formen wie in seiner Theologie. Die Grundlage ist sowohl hier wie
dort jener architekturale Idealismus, den die Scholastik Realismus
nennt: das Bedürfnis, jede Erkenntnis abzusondern und ihr als einer
Wesenheit Form zu verleihen, sie zusammenzuordnen in hierarchische
Verbände und immer wieder Tempel und Kathedralen aus ihnen zu
errichten, wie ein Kind, das mit Bauklötzen spielt.
Alles, was sich im Leben einen festen Platz erobert, was zur
Lebensform wird, gilt für ordiniert, ebensogut die gewöhnlichsten
Sitten und Gebräuche, wie die höchsten Dinge im göttlichen Weltplan.
Sehr deutlich offenbart sich das zum Beispiel in der Auffassung von
den Regeln der Hofetikette bei den Beschreibern des Hofstaats wie
Olivier de la Marche und Alienor de Poitiers. Die alte Dame betrachtet
jene Regeln als weise Gesetze, die an den Höfen der Könige vormals
 
Annotationen