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DIE DENKFORMEN IM PRAKTISCHEN LEBEN

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mit Wahl und Urteil eingesetzt wurden und für alle kommenden Zeiten
zu beobachten sind. Sie spricht von ihnen wie von der Weisheit der
Jahrhunderte: „et alors j’ouy dire aux anciens qui s^avoient . . .“ Sie
sieht, wie die Zeiten entarten: seit ungefähr zehn Jahren stellen einige
Damen in Flandern das Wochenbett vor das Feuer, „de quoy l’on s’est
bien mocque“; früher tat man das nie; wo führt das hin? „mais un
chacun fait ä cette heure ä sa guise; par quoy est ä doubter que tont
ira mal“').
La Marche stellt sich und dem Leser wichtige Fragen, in bezug auf
den rationellen Grund aller dieser feierlichen Dinge: warum hat der
„fruitier“ zugleich die Beleuchtung, „le mestier de la cire“ in seinem
Departement? Die Antwort lautet: weil das Wachs von den Bienen
aus den Blumen gesogen wird, aus welchen auch die Früchte ent-
stehen: „pourquoy on a ordonne tres bien ceste chose“* 2). Die starke
mittelalterliche Neigung, für jede Funktion ein Organ zu schaffen, ist
nichts anderes als ein Ausfluß der Denkweise, die jeder Qualität Selb-
ständigkeit zusprach, sie als Idee sah. Der König von England hatte
unter seiner „magna sergenteria“ ein Amt, des Königs Haupt festzu-
halten, wenn er über den Kanal fuhr und seekrank wurde; 1442 wurde
es von einem gewissen John Baker bekleidet, von dem es auf seine
beiden Töchter überging3).
Die Gewohnheit, allen Dingen, auch den leblosen, einen Namen zu
geben, ist in demselben Lichte zu betrachten. Es ist ein verblaßter
Zug primitiven Anthropomorphismus, wenn auch jetzt noch im
Kriegsleben, das in mancher Hinsicht die Rückkehr zu einer primi-
tiven Lebenseinstellung bedeutet, Kanonen Namen erhalten. Im
Mittelalter ist jener Zug viel stärker: gleich den Schwertern
im Ritterroman haben die Bombarden in den Kriegen des 14. und
15. Jahrhunderts ihre Namen: „le Chien d’Orleans, la Gringade, la
Bourgeoise, de Dulle Griete“. Als ein Überbleibsel davon haben jetzt
noch einzelne berühmte Diamanten ihren Namen. Von den Juwelen
J) Alienor de Poitiers, Les honneurs de la cour, p. 184, 189, 242, 266.
2) Olivier de la Marche, l’Estat de la maison etc., t. IV, p. 56, siehe ähn-
liche Fragen oben S. 51.
3) J. H. Round, The king’s serjeants and officers of state with their coro-
nation Services, London 1911, p. 41.
 
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