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REALISMUS“ UND DIE GRENZEN DES BILDLICHEN DENKENS 311

geliebten Autors Bernhard von Clairvaux seine Grundlage. Das Buch
gibt keine philosophische Gedankenentwicklung; es enthält nur eine
Anzahl höchst einfacher Gedanken in Spruchform um einen Mittel-
punkt gruppiert; jeder wickelt sich in einem kurzen Sätzchen ab; es
gibt keine Subordination und kaum Korrelation von Gedanken. Es
hat nichts von dem lyrischen Zittern eines Heinrich Seuse oder dem
gespannten Funkeln eines Ruusbroec. Mit dem Geläute parallel fort-
laufender Sätze und matter Assonanzen würde die Imitatio doppelt
Prosa erscheinen, wenn nicht gerade jener eintönige Rhythmus sie
dem Meer an einem weichen Regenabend ähnlich machte oder dem
herbstlichen Seufzen des Windes. Es ist etwas Wunderbares um
die Wirkung der Imitatio. Dieser Denker packt uns nicht durch
seine Kraft oder seinen Schwung, wie Augustinus, nicht durch das
Blühende seines Worts, wie der heilige Bernhard, nicht durch die Tiefe
oder Fülle seiner Gedanken; es ist alles eben und schwermütig, alles in
Moll; es gibt nur Frieden, Ruhe, stille, ergebene Erwartung und Trost.
„Taedet me vitae temporalis.“ — Das irdische Leben ist mir zur Last,
sagt Thomas irgendwo1). Und dennoch vermag das Wort dieses Welt-
abgeschiedenen für das Leben zu stärken wie das keines andern.
Eines hat das Buch für die Ermüdeten aller Jahrhunderte ge-
meinsam mit den Äußerungen der heftigen Mystik. Auch hier war
die Gestaltungskraft überwunden, soweit das möglich war, und das
farbige Gewand schillernder Symbole abgelegt. Und deshalb be-
schränkt sich auch die Imitatio nicht auf eine Kulturepoche; ebenso
wie die ekstatischen Kontemplationen des All-Einen lenkt sie ab von
aller Kultur. Sie gehört zu keiner besonderen Kultur. Hieraus sind
sowohl ihre zweitausend Ausgaben als auch die Möglichkeit, daß
man, was Verfasser und Entstehungszeit betrifft, zwischen drei Jahr-
hunderten schwanken konnte, zu erklären. Thomas hatte das „Ama
nesciri“ nicht umsonst gesprochen.
x) L. c., p. 222.
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