Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
310 SECHZEHNTES KAPITEL
Devoten statt der einsamen und seltenen Ekstase. Die nüchterne
Mystik, möchte man sagen.
In den Brüderhäusern und den Klöstern der Windesheimer Kon-
gregation ist über die stille tägliche Arbeit der Glanz der fortwährend
im Bewußtsein anwesenden religiösen Innigkeit gegossen. Das bewegt
Lyrische und das ungezügelte Emporstreben ist preisgegeben und da-
mit auch die Gefahr der Glaubensverirrung gewichen; die Brüder und
Schwestern sind vollkommen rechtgläubig und konservativ. Es war
eine Mystik en detail: man hatte nur „einen Einschlag bekommen“,
„ein Fünkchen empfangen“, und erlebte in dem engen, stillen, be-
scheidenen Kreis die Entrückung in vertraulichem geistigen Verkehr,
in Briefwechseln und Selbstbetrachtung. Das Gefühls- und Gemüts-
leben wurde wie eine Treibhauspflanze großgezogen; es herrschte
dort viel kleiner Puritanismus, geistige Dressur, Erstickung des Lachens
und der gesunden Triebe, viel pietistische Einfältigkeit.
Aus diesem Kreis jedoch ist das stärkendste und schönste Werk
jener Zeiten, die „Imitatio Christi“, her vorgegangen. Hier haben wir
den Mann, der kein Theologe war und kein Humanist, kein Philosoph
und kein Dichter, und eigentlich auch kein Mystiker, und der das
Buch schrieb, das ein Trost für Jahrhunderte werden sollte. Thomas
a Kempis, der stille, insichgekehrte, voll Zärtlichkeit für das Meß-
wunder und mit den engsten Auffassungen von der göttlichen
Führung, wußte nichts von der heftigen Entrüstung über Kirchen-
verwaltung oder Weltleben, so wie sie die Prediger beseelte, nichts
von dem vielseitigen Streben eines Gerson, Dionysius oder Nicolaus
von Cusa, nichts von der tollen Phantasie eines Johannes Brugman
oder dem bunten Symbolismus von Alain de la Roche. Er suchte nur
die Ruhe in allen Dingen und fand sie „in angello cumlibello“: „0 quam
salubre quam iucundum et suave est sedere in solitudine et tacere et
loqui cum Deo.“ — O wie heilsam, wie angenehm und süß ist es, in
Einsamkeit zu sitzen und zu schweigen und mit Gott zu reden!1) Und
sein Buch der einfachen Lebensweisheit und Sterbensweisheit für das
entsagende Gemüt wurde ein Buch für alle Zeiten. Hier war alle
neuplatonische Mystik wieder aufgegeben und nur die Stimmung des
x) Soliloquium animae, Thomas a Kempis, Opera omnia, ed. M. J. Pohl,
Freiburg 1902—10, 7 vol., I, p. 280.
 
Annotationen