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Huizinga, Johan
Herbst des Mittelalters: Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. u. 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden — München: Drei-Masken-Verl., 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.49575#0376
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ACHTZEHNTES KAPITEL

des spätmittelalterlichen Denkens hingestellt hatten: die Darstellung
alles Denkbaren bis in seine letzten Konsequenzen, die Überanfüllung
des Geistes mit einem unendlichen System formaler Vorstellungen,
das macht auch das Wesen der Kunst jener Zeit aus. Auch sie strebt
danach, nichts ungeformt, nichts ungestaltet oder unverziert zu lassen.
Wie ein endloses Orgelnachspiel ist die flamboyante Gotik: sie löst
alle Formen in Selbstzergliederung auf, gibt jedem Detail seine fort-
laufende Durcharbeitung, jeder Linie ihre Gegenlinie. Es ist ein un-
gebundenes Überwuchern der Idee durch die Form; das ausge-
schmückte Detail greift alle Flächen und Linien an. Jener horror vacui,
den man vielleicht ein Kennzeichen abschließender Geistesperioden
nennen darf, herrscht in dieser Kunst.
Dies bedeutet alles, daß die Grenzen zwischen Prunk und Schön-
heit abflauen. Schmuck und Ornament dienen nicht mehr zur Ver-
herrlichung des natürlich Schönen, sondern überwuchern es und drohen
es zu ersticken. Je weiter man sich von der rein bildnerischen Kunst
entfernt, je zügelloser überwuchert die formale Ornamentik den Inhalt.
In der Skulptur bietet sich, solange sie freistehende Figuren erschafft,
wenig Gelegenheit für das Wuchern der Formen: die Statuen des Moses-
brunnens und die „plourants“ der Grabmäler wetteifern in strenger,
einfacher Natürlichkeit mit Donatello. Sobald aber die Aufgabe der
Bildhauerkunst dekorativer Art ist oder in das Gebiet der Malerei fällt
und, gebunden durch die verringerten Dimensionen des Reliefs, ganze
Szenen wiedergibt, dann übernimmt auch sie sich an unruhiger Über-
ladung. Wer das Schnitzwerk von Jacques de Baerze am Tabernakel
zu Dijon neben der Malerei von Broederlam betrachtet, dem wird eine
Disharmonie zwischen beiden auffallen. In der Malerei, der rein dar-
stellenden, herrscht Einfachheit und Ruhe; in der Schnitzerei, die, ihrer
Art nach ornamental, auch das Bilden von Figuren ornamental behan-
delt, gewahrt man ein Sich-gegenseitig-Verdrängen der Formen, das
mit der Ruhe des Gemalten im Gegensatz steht. Gleicher Art ist der
Unterschied zwischen Gemälde und Teppich. Die Webekunst steht,
auch wenn sie eine Aufgabe rein darstellender Art übernimmt, durch
ihre unfreie Technik näher bei der Ornamentik und kann sich dem
übertriebenen Verzierungsbedürfnis nicht entziehen. Die Teppiche sind
überfüllt mit Figuren und Farben und bleiben scheinbar archaisch in
 
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