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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 2.1854

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Nr. 12
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https://doi.org/10.11588/diglit.62065#0103
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Die JUnstrirte Welt.

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in dem Tone getäuschter Erwartung. „In der ganzen Um-
gebung ist nur eines, das der Beschreibung entspricht, aber
das kann es unmöglich sein, wer sollte in einem solchen
Hundehaus wohnen!" — „O sich, da steht ja der Name auf
einem Wegweiser — Eglantine!" unterbrach ihn seine
Frau, „wie traurig sieht der Ort aus!"
Ja, das konnte sie mit Recht sagen! Die meisten
Fenster waren zerbrochen, und die, welche noch ganz,
mit Spinngeweben bedeckt oder durch Staub und Regen
beschmutzt. Des Schlosses beraubt, schlug die kleine
Gartenthüre vom Winde auf und zu und ächzte in ihren
Angeln, und der trostlose Anblick des schadhaften Daches
vollendete das traurige Bild des Verfalls.
Ein Kind ging gerade vorbei. „Sage mir mal, mein
Kleiner", fragte Mr. H —, indem er auf das Haus deutete,
„wohnt hier Jemand?" — „Ja, mein Herr!" antwortete
der Knabe im Vorübergehen; „Mr. H. und die junge
Dame, seine Tochter, wohnen dort!"
Diese Antwort machte beide schauern. Mr. Hildebrand
stieg aus dem Wagen, ging über den kleinen Hofweg nach
einer halb offen stehenden Thüre, klopfte mit feinem Stock
daran und rief: „IstJemand da?" Er stand stifte und lauschte
und es war ihm, als ob er die hohlen, kaum menschli-
chen Töne eines krampfhaften Gelächters und dann wieder
die sanften Töne einer weiblichen Stimme hörte, welche ein
Miserere mit der herrlichsten Modulation sang. Er trat
über die Thürschwellc. — Auö den dunkeln, feuchten Räu-
men drang ihm ein widerlicher Dunst entgegen; dann ging
er die bresthafte Treppe hinauf, bis er dem Orte ganz nahe
war, woher die Töne kamen. Ein peinliches Gefühl bemäch-
ligte sich feiner, — ein instinctmäßiges Bewußtsein, daß er
in der Nähe des Todes sei, machte seine Haare zu Berge
stehen. — Eine schreckliche Scene entfaltete sich vor sei-
nen Augen. Die arme Miß H. saß ans ihrem elenden
Bette, eifrig mit der Nadel beschäftigt und bald singend,
bald wild lachend. Kaum glich sie noch einem lebendigen
Wesen, so eingeschrumpft und abgezehrt war sie. So sehr
beschäftigte sie ihre Arbeit, daß sie im ersten Momente den
Eintretende» gar nicht sah, welcher sie Mit Schrecken be-
trachtete. Ihre großen glänzenden Augen traten aus den
eingesunkenen Höhlen hervor und warfen einen unnatür-
lichen Schein über ihr abgezehrtes Gesicht und ihre fieber-
glühenden Wangen. Plötzlich hielt sie mit der Arbeit inne
und heftete ihre leuchtenden Augen auf des Onkels Antlitz,
ber sic einen Moment lang mit durchdringendem, erschrocke-
uem Blicke betrachtete. Dann sprang sie auf, schloß ihn in
ihre Arme und sank mit dem Ausruf: „O mein Gott, so
ist es doch mir ein schrecklicher Traum und Du lebst noch,
mein Vater!" ohnmächtig zu seinen Füßen nieder.
Mr. Hildebrand H. hob sie sanft vom Boden auf
uud legte sie auf das armselige Bette. Er zweifelte nicht
daß dies seine Nichte sei. Da seine Thcilnahme
un höchsten Grade erregt war und er vor Begierde brannte,
Unrecht wieder gut zu machen, unter dem sie so lange
^Huldig gelitten, so rief er seine Frau zu Hülfe, und als
-uß H. ihre Augen wieder öffnete, begegnete sie wohl-
^ollenden, theilnehmenden Blicken, und sanfte freundliche
tiiunien machten sie mit ihren Familieuverhältnissen be-
annt. Mit milden Worten baten sie sie, guten Muths
sein und boten ihr des Großvaters Haus als künftige
?/"^h an, indem sie sie seiner innigsten Liebe und der
'abständigen Vergebung für ihren Vater versicherten.
3u all' ihrem Unglück hatte sic keine Thränen gehabt,
stoßen sie unaufhaltsam und erleichterten ihr sieberglü-

hendes Herz. Erfüllt von einem Gefühle, das zu tief war,
um es aussprechen zu können, schluchzte sie endlich die
Worte: „So soll mein Vater doch noch ein christlich Be-
gräbniß bekommen — kein Armenbcgräbniß? Da ruht er
unter Euren Fußen", — rief sie leidenschaftlich: „unter
diesen Fliesen!" und sie zeigte auf eine Stelle vor dem Ka-
mine: „Ich habe ihn vor zehn Tagen selbst dahin gelegt!"
Erschrocken schlugen sie die Hände zusammen und mit
Thränen in den Augen riefen sie: „O welch' herrliches
Herz! Welch' unvergleichliche Ausdauer!"
Dann hüllten sie die so stark Geprüfte in einige Klei-
dungsstücke von Mistreß H. und der Onkel führte sie aus
dem durch so manche schreckliche Erinnerungen u »heim-
lich gewordenen Haus nachdem harrenden Wagen, in wel-
chen er sie sanft hineinhob. Von dem Onkel wurde sie uun
auch dem Großvater vorgestellt, der sie mit thränenvollen
Augen und zitternden Lippen nm Vergebung für alle Lei-
den bat, die ihr so unverdient zu Theil geworden. Von dem
kleinen Mädchen, das zu Gunsten ihres Vaters gesprochen,
empfing sie die Lehre kindlicher Weisheit, die sie zu der un-
erschöpflichen Quelle göttlicher Liebe führte, Trost und
Stärke daraus zu schöpfen.
Kummer - und reuevoll folgte der hochbetagte Groß-
vater den irdischen Ueberresten des unglückliche» Sohnes
zum Familienbegräbnisse, wo sie in einem mit dem Fami-
lienwappen reich geschmückten Sarge an der Seite seiner
angebeteten Gattin beigesetzt wurden. Groß waren seine
Leiden im Leben gewesen, aber groß war auch seine Schuld;
denn der, der seine Pflicht nicht erfüllt, kann sich nie
glücklich fühlen, und ungestraft können wir dem Fluch des
Ungehorsams nicht trotzen, der über unsere ersten Eltern
ausgesprochen wurde.
Miß H., das unschuldige Opfer des Unrechts der
Eltern, war in Kummer aufgewachsen, eine späte Vergel-
tung entriß sie dem Abgrund des-Elends, in den sie gestürzt
worden.
Aber es geschieht nicht immer, wie es bei i hr geschah,
daß die Tugend zuletzt ihren Lohn schon hier im Leben fin-
det; doch „trägt sie ihren unaussprechlichen Lohn in sich
selbst" — in dem Bewußtsein „nie müde geworden zu sein,
das Gute zu thun."
Ich will meine Erzählung mit einer goldenen Lehre
schließen, die man nicht vergeblich hören sollte:
„Es ist menschlich, zu fehlen, — aber es ist göttlich,
zu verzeihen."

Der Frühling.
Von M. Goldschmidt.
In den großen Städten hört man, daß der Winter
geht und der Frühling kommt, aber man sieht es nicht. Man
ist abgeschnitten, das Schiff steht auf einem einsamen Berg
und von draußen kommt die Botschaft: Die Wasser fallen.
Wenn auch die neue Soune ihr Oelblatt spendet und
Veilchen in die Krämerhäuser gebracht werden, so eilt man
doch nicht sogleich hinaus; man wartet, bis Alles in Ord-
nung ist, der Weg eben, Wald und Feld comfortabcl, und
begibt sich erst dann ins Freie, um das Ganze in Augen-
schein zu nehmen.
Aber draußen auf dem Lande und in den kleinen
Landstädtchen, da fühlt man das stille Leben der Natur in
 
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