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Die Illust riete Welt.

folgt, wo er Bischof geworden, und hatte ihr Kind unter
der Obhut des Großvaters zurückgelassen.
Der alte Herr faß oben am Festtisch mit seiner kleinen
Enkelin an der Seite; seine Söhne mit ihren Frauen und
Kindern, und mehrere entfernte Verwandte saßen rings
um den mit Silber und Kristall geschmückten Tisch; ein
kostbares Dessert wurde servirt und ausgezeichnete Weine
eingeschenkt.
„Dies Glas", sagte der Alte mit tiefer Bewegung,
indem er aufstand, „leeren wir für die Abwesenden, meine
geliebte Tochter und ihren braven Mann. Nun, meine
kleine Dame", fuhr er fort, indem er dem Kinde an seiner
Seite freundlich zülächelte, „nun ist es nach alter Sitte
Deine Pflicht, Deinen Dank für diesen Toast auszuspre-
chen." „Fülle erst Dein Glas, Großvater!" rief sie, „Je-
dermann soll sein Glas füllen! Nun, dies bringe ich den
Abwesenden!" sagte sie langsam und deutlich — „meinem
Onkel Reginald!"
Alle rings um den Tisch stutzten; es war das erste
Mal seit einer Reihe von Jahren, daß jener Name in ihrer
Gegenwart ausgesprochen wurde und mit höchst unbehag-
lichem Gefühl tranken sie auf seine Gesundheit. Darauf
erzählte der Großvater mit gedämpfter Stimme und ganz
veränderter Miene den Vorfall mit dem Portrait und wie
des Kindes Ausspruch ihn erweicht.
Aber ach, warum war er so lange unversöhnlich ge-
wesen ?
Jetzt, da alle Nachforschung vergeblich, erboten sich"
zwei von Rcginald'S Brüdern freiwillig, ihn aufzusuchen.
Tage verflossen mit fruchtlosem Suchen; drei Wo-
chen waren vorüber und noch hatte man keine Spur von
ihm, während das liebenswürdige Kind stündlich den Groß-
vater fragte, was aus dem Onkel geworden, ob er denn
nicht zum Vorschein komme und weßhalb er auf alle An-
fragen in den Zeitungen nicht antworte.
Indessen waren Mrs. H's Leiden schrecklich! Da sie
nur für sich selbst zu sorgen hatte, dachte sie nicht daran,
zu arbeiten; ihrs Nerven waren auf's Aeußerste gereizt und
ihre rastlose, unbeschäftigte Phantasie bereitete ihr die grau-
samsten Qualen.
Da sie in den letzten Lebensmonaten ihres unglück-
lichen Vaters sich an sparsame Nahrung gewöhnt, so reichte
der Speisevorrath, den sie am Weihnachtsabend empfangen,
noch lange hin; aber nach Verfluß der dritten Woche war
er doch beinahe aufgezchrt und sie sah sich deßhalb genö-
thigt, zu arbeiten. Als sie so eines Tages am Fenster be-
schäftigt saß, heftete sich ihre Aufmerksamkeit auf ein Stück
abgerissenes Papier, das vom Wind bald an die Fenster-
scheiben, bald zwischen die Schlingpflanzen geworfen wurde,
welche die Mauer bedeckten, und da sie in letzter Zeit sehr
reizbar geworden, so war der Anblick dieses hin- und her-
flatternden Papieres ihr im höchsten Grade zuwider. Rasch
öffnete sie deßhalb das Fenster, um das Papier von einem
Zweige wegzunehmen, wo es gerade hängen geblieben; als
sie es jedoch zerreissen wollte, fiel ihr ihres Vaters Name
zufällig in die Augen. Sie hielt inne, sah genauer hin
und las mit Zittern und Staunen folgende Worte:
„Wenn Reginald H— sich auf dem Comptoir die-
ser Zeitung meldet, wird er etwas erfahren, was zu sei-
nem Vorthetl dient." Es war ein Stuck von einer zer-
rissenen Zeitung, aber Datum und Name fanden sich
darauf.
Was war zu thun? Wo sollte sie sich melden? Wer
würde ihr glauben, daß sie seine Tochter gewesen?

Aber die wunderbare Schickung des Zufalls gab ihr
wiederHoffnung — und sie beschloß, sich sogleich schriftlich
zu melden. Doch dazu brauchte sie Papier, Feder und Dtnte,
und woher sollte sie diese nehmen? sie konnte ja Niemanden
darum bitten; aber sie konnte arbeiten, und sie sich so selbst
verdienen. Gestärkt durch diese Hoffnung, brauchte sie fleißig
ihre Nadel und ihr Geist bereitete sich auf die Ereignisse
vor, welche folgten.
Ein einfacher Umstand führte zu ihrer Entdeckung.
Es ist bereits gesagt, daß die Tochter ihres Groß-
vaters dem Gemahl nach einer indischen Besitzung gefolgt
war. Die Firma, auf deren Comptoir Mr. H. gearbeitet,
machte bedeutende Geschäfte mit Ostindien und unter ihrer
Adresse war kürzlich eine Kiste mit indischen Seltenheiten
für ihr geliebtes Kind angekommen. Der älteste Bruder,
der sich gerade in der Stadt aufhielt, begab sich sogleich auf
das Comptoir, wo er mit einem Commis zu sprechen ver-
langte, um zu erfahren, wo die Sachen abgelangt werden
könnten. Der, welcher ihm Auskunft gab, war Niemand
anderes, als Mr. Wilmot, welcher, nachdem er den Frem-
den einen Augenblick aufmerksam betrachtet, plötzlich aus-
rief: „Mein Gott, Mr. H—- wie wohl sehen Sie aus! Sie
sind ja ein ganz neuer Mensch geworden; Sie sind ja
zehn Jahre jünger, als da Sie den Platz auf unserem
Comptoir antraten." „Mein Herr!" antwortete der An-
dere stolz, „hier muß ein Mißverständniß stattfinden, denn
ich hatte nicht die Ehre, Sie je zuvor zu sehen." —
„Wahrhaftig? dann bitte ich um Verzeihung, mein Herr!"
sagte Mr. Wilmot in zweifelndem Tone; „nun ja, ganz
richtig. Haben Sie die Güte, diesen Empfangschein zu
unterschreiben."
Mit fester und deutlicher Hand unterschrieb er sich
Hildebrand H. Aber wie ein Blitz durchfuhr ihn ein Ge-
danke und er sagte: „Ihre Aeußerung von vorhin deutete
darauf, daß ich früher auf diesem Comptoir gearbeitet ha-
ben sollte; nun da Sic meinen Namen gesehen, darf ich
Sie wohl fragen, für wen Sie mich gehalten?" — „Ja
gewiß, mein Herr, ganz gewiß", sagte Mr. Wilmot, die
Hände reibend, „und ich hoffe, es wird Sie nicht beleidi-
gen. Ich hielt Sie für einen Herrn, der ganz denselben
Namen führte, wie Sie, und der Ihnen so ähnlich sah, wie
ein Ei dem andern, nämlich Mr. Reginald H—." — „Regi-
nald H—!" rief Hildebrand erfreut. Er war also hier
auf dem Comptoir? können Sie mir vielleicht feine Adresse
geben, ich habe ihn lange vergeblich gesucht." — „Nun
ja, vor zwei Jahren", antwortete Mr. Wilmot, „bewohnte
er ein Haus in Chelsea. Sie können nicht fehlgehen,
es ist ein längliches niederes Haus, mit Schlingpflanzen
überwachsen, und mit einem Garten davor, in welchen
man durch ein grünes Staketeuthor tritt; wie hieß doch nur
das Haus — zum Teufel, ich kann mich nicht mehr
entsinnen! Doch gleichviel, der Name steht auf einem
Pfosten vor dem Hause; — o ja, nun hab' ich's, — Eg-
lantine heißt das Haus!" — „Ich danke Ihnen sehr,
mein Herr!" sagte Mr. Hildebrand H —, indem er die
Adresse aufschrieb und Mr. Wilmot grüßend, das Comp-
toir verließ und in den Wagen stieg, wo seine Frau auf
seine Zurückkunft wartete. Er ließ den Kutscher nach dem
angedeuteie» Platz fahren und erzählte unterwegs seiner
Frau die kleine Scene zwischen ihm und Mr. Wilmot.
Eine halbe Stunde später war er in Chelsea. „Wir
müssen nun in der Nähe sein", rief, er, als er den Namen
Paradise Row auf einem Wegweiser las. „Ein langes
! weißes Haus, bedeckt mit Schlingpflanzen?" Wiederholteer
 
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