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Illustrirte Welt.
Am Deiche.
Line Geschichte aus den -Marschen
von
Audwig Kreiherrn von
Gmpleda.
(Nachdruck verbalen.)
Die See hatte mit sinken-
der Ebbe den Fuß deö hohen
Deiches verlassen; dann hatte
das Wasser sich allmälig auch
vom flachen Vorlande in unab-
sehbare Ferne zurückgezogen.
In diesen Stunden entwickelt
sich auf der weiten Fläche deö
Watts alsbald ein reges Leben.
Der Mensch ergreift in
den kurzen, mit ewiger Regel-
mäßigkeit wiederkehrcndcn
Zeiträumen zwischen zwei
Fluten Besitz von dem Bo-
den, den das Meer auf kurze
Zeit geräumt hat. In lang-
samem Kampfe, durch zähe
Arbeit, trachtet er, was vor
Jahrhunderten von dem Fest-
lande verloren ging, jetzt dem
Meere wieder abzugewinnen.
Nicht indem er mit seiner
winzigen Kraft dem elemen-
taren Walten der Natur ent-
gegentritt. Vielmehr macht
er sich die wunderbare, den
zu- und abströmenden Wasser-
massen angeborene land-
schaffende Thätigkcit dienstbar.
Er versucht nicht, den Ozean
zu zwingen; aber er leitet
blinde Gewalt nach seiner
eigenen Einsicht, auf daß sie
für ihn den flachen Meeres-
Die Hochstapler. Nm »üchstcn Morgen erschien Mols mit choi unil seinem Diener an Korä. 2.)
Ruhepause der Ebbe mit den
schon vorhandenen älteren La-
gerungen zur Aufhöhung und
Festigung dessBodens. Dieses
crdbildende schaffen der Ele-
mente nun wird von den Men-
schen in Dienst und Pflicht
genommen. Durch unab-
lässiges Graben und Schau-
feln regeln und befördern sie
die anschwemmeude Thätigkeit
der Mcereswellen, indem sie
dieselben in ein Netz weiter,
künstlicher Rillen und Buch-
ten cinfangcn, um sie dort
zu längerer Ruhe und zu
reichlicherer Füllung der in
ihnen schwimmenden Erdthcil-
chcn fcstzuhaltcn. Allmälig
verschwinden auf den erhöhten
trockeneren Feldern die man-
nigfachen Salze und Sumpf-
pflanzen, die sich als früheste
Ansiedler hier eingefunden
hatten: die bläuliche Strand-
aster und der fleischige kaktus-
ähnliche Krückfuß.
An stelle dieses Blumen-
waldes überzieht ein üppiger,
dichter Teppich kurzen, nahr-
haften Grases den Boden,
der nun dem waidenden Vieh
eine fette Waide bildet. Vor-
aus aber diesem jetzt reifen
Zuwachse zum alten Fcstlande
streben unermüdlich die gra-
benden und schaufelnden Ar-
beiter hinaus zum Meere, bis
»ach einigen Stunden ange-
strengten Bemühens im wei-
chen, zähen, nassen Schlamme
die nächste, in unzähligen
kleinen und großen Rinnsalen
unmerklich von Neuem an-
boden allmälig immer höher
aufbaue und so sich selbst von
ihrem bisherigen Tummelplätze zurückdränge. Denn jede
tägliche Flutwelle, die über das unfertige, weiche und halt-
lose Watt hinstiömt, lagert auf dessen Oberfläche, gleich
wie jeder neue Tag auf das Menschenleben, eine frische,
unmeßbar dünne Schicht fruchtbarster Rohstoffe. Diese
Abscheidung vereinigt sich alsdann während der trocknenden
laufende Flut sie wiederum
auf den grünen, hohen Heller
' und weiter dem schützenden Deiche zudrängt, lieber jene
! thätig schaffenden Gruppen hin schießen frei und flüchtig die
! weißen, schwarzköpfigen Möven und die kleinen, gabel-
Ncineke in rosiger Laune. Nach einem Gemälde von Otto Grashey.
Illustrirte Welt.
Am Deiche.
Line Geschichte aus den -Marschen
von
Audwig Kreiherrn von
Gmpleda.
(Nachdruck verbalen.)
Die See hatte mit sinken-
der Ebbe den Fuß deö hohen
Deiches verlassen; dann hatte
das Wasser sich allmälig auch
vom flachen Vorlande in unab-
sehbare Ferne zurückgezogen.
In diesen Stunden entwickelt
sich auf der weiten Fläche deö
Watts alsbald ein reges Leben.
Der Mensch ergreift in
den kurzen, mit ewiger Regel-
mäßigkeit wiederkehrcndcn
Zeiträumen zwischen zwei
Fluten Besitz von dem Bo-
den, den das Meer auf kurze
Zeit geräumt hat. In lang-
samem Kampfe, durch zähe
Arbeit, trachtet er, was vor
Jahrhunderten von dem Fest-
lande verloren ging, jetzt dem
Meere wieder abzugewinnen.
Nicht indem er mit seiner
winzigen Kraft dem elemen-
taren Walten der Natur ent-
gegentritt. Vielmehr macht
er sich die wunderbare, den
zu- und abströmenden Wasser-
massen angeborene land-
schaffende Thätigkcit dienstbar.
Er versucht nicht, den Ozean
zu zwingen; aber er leitet
blinde Gewalt nach seiner
eigenen Einsicht, auf daß sie
für ihn den flachen Meeres-
Die Hochstapler. Nm »üchstcn Morgen erschien Mols mit choi unil seinem Diener an Korä. 2.)
Ruhepause der Ebbe mit den
schon vorhandenen älteren La-
gerungen zur Aufhöhung und
Festigung dessBodens. Dieses
crdbildende schaffen der Ele-
mente nun wird von den Men-
schen in Dienst und Pflicht
genommen. Durch unab-
lässiges Graben und Schau-
feln regeln und befördern sie
die anschwemmeude Thätigkeit
der Mcereswellen, indem sie
dieselben in ein Netz weiter,
künstlicher Rillen und Buch-
ten cinfangcn, um sie dort
zu längerer Ruhe und zu
reichlicherer Füllung der in
ihnen schwimmenden Erdthcil-
chcn fcstzuhaltcn. Allmälig
verschwinden auf den erhöhten
trockeneren Feldern die man-
nigfachen Salze und Sumpf-
pflanzen, die sich als früheste
Ansiedler hier eingefunden
hatten: die bläuliche Strand-
aster und der fleischige kaktus-
ähnliche Krückfuß.
An stelle dieses Blumen-
waldes überzieht ein üppiger,
dichter Teppich kurzen, nahr-
haften Grases den Boden,
der nun dem waidenden Vieh
eine fette Waide bildet. Vor-
aus aber diesem jetzt reifen
Zuwachse zum alten Fcstlande
streben unermüdlich die gra-
benden und schaufelnden Ar-
beiter hinaus zum Meere, bis
»ach einigen Stunden ange-
strengten Bemühens im wei-
chen, zähen, nassen Schlamme
die nächste, in unzähligen
kleinen und großen Rinnsalen
unmerklich von Neuem an-
boden allmälig immer höher
aufbaue und so sich selbst von
ihrem bisherigen Tummelplätze zurückdränge. Denn jede
tägliche Flutwelle, die über das unfertige, weiche und halt-
lose Watt hinstiömt, lagert auf dessen Oberfläche, gleich
wie jeder neue Tag auf das Menschenleben, eine frische,
unmeßbar dünne Schicht fruchtbarster Rohstoffe. Diese
Abscheidung vereinigt sich alsdann während der trocknenden
laufende Flut sie wiederum
auf den grünen, hohen Heller
' und weiter dem schützenden Deiche zudrängt, lieber jene
! thätig schaffenden Gruppen hin schießen frei und flüchtig die
! weißen, schwarzköpfigen Möven und die kleinen, gabel-
Ncineke in rosiger Laune. Nach einem Gemälde von Otto Grashey.