54
„Ja, ich fürchte nur, der Bär wird überwiegen," gab
Fritz zurück. „Ich bin in Damengesellschaft stets als
solcher taxirt worden."
„Nun, vielleicht ist bei einer Dame diese Quantität
so verringert, daß nnr ein Eichkätzchen übrig bleibt," warf
das Mädchen dagegen ein. Alles lachte, ans die Hünen-
gestalt des blonden Mannes blickend.
Herr Holle sah zu diesem Schcrzverkehr finster und
ging in seine Koje, ihm war der heitere Ton nicht eigen.
Das Schiff hatte schon am Morgen früh Dampf gemacht,
die Ankerkcttcn wurden heraufgewunden, die Steuerbeamten,
die beiden Lotsen kamen an. Der eine Lotse trat an das
Steuerrad neben Fritz, der andere stellte sich vorn auf
dem Kapitänsauslug neben Holle und Hoorn auf, das
Kommando erschallte und das Schiff ging vorwärts und
drehte sich. Langsam kam es aus dem Gewirr der anderen
Fahrzeuge heraus, nahm mehr Dampf und zog aus dem
Hafen. An dein hohen Lcuchtturm auf dem Felsen, links
an der kleinen Laterne an der Spitze des langen Molo
wurden die üblichen Grüße gewechselt und das an den
Berg gelagerte Häusermeer Genuas sank immer tiefer
herab und die grauen Bergschroffen mit den Forts,
Bastionen und Citadellen traten mächtiger empor; zuletzt
war die volkswimmelnde Stadt mit ihren ragenden
Kuppeln und Türmen nur noch ein weißschimmernder
Streifen auf dem blauen bewegten Wasser, und die Berge
duftig bläuliche Höhen, von denen die gewaltigen Kriegs-
werke als rosa Punkte matt sich herauShoben. Neber allen
traten nun die von Schnee und Eis schimmernden Zacken
und Gipfel der Apenninen und Apuanen empor, bald
verschwanden auch diese in Glanz und Duft und vor den
Fahrenden lag das Meer, blitzend wie ein unendlicher
Spiegel, rosa, blau, gelb, purpurn, grün, denn es war
nachmittag vier Uhr geworden und die Sonne stand schon
schräg. Am Bugspriet brauste eine große Schaumwcllc
und hinter dem Schiffe liefen blaupurpurne Streifen weit
auseinander.
Im Süden und Norden sah man noch die Küste, un-
zählige, blaugrüne, leuchtende Buchten bildend, begrenzt
von violettblauen Bergen, über welchen die beschneiten
Kämme dcrMeeralpen und der Apenninenhinnnel dämmerten.
Dieser wurde blasser, gelber, das Meer schien flüssiges
Messing, dann Goldkupfcr und schließlich lag es tief
schwarzblan da, indes ein klarer, sterngestickter Nachthimmel
sich über ihm und dem Schiss wölbte. Dort waren die
Laternen angezündct, in seltsamer Beleuchtung, bald schatten-
haft schwarz, bald grell vom Licht angestrahlt, bewegten
sich die Matrosen, wiederholten Kommandorufe, führten
die Befehle aus, und eine Glocke gab in bestimmten Inter-
vallen kurze, lautklingende Zeichen.
Es ward kühl und wer keinen Dienst hatte, begab sich
zum Nachtmahl. Fritz war abgelöst werden durch den
Vollmatrosen nnd saß mit dem Kapitän, Holle und Gilda
am Tisch.
Die Unterhaltung war belebt, der alte Kapitän sehr an-
geregt; seit einem Jahre nun hatte er wieder Schisfsplanken
unter den Füßen und Theergeruch in der Nase, wie er sich
ausdrückte, und Gildas Augen glänzten, sie war ganz ver-
wandelt, lustig und neckisch, wie sie Herr Holle floch nie
gesehen hatte, nm Jahre verjüngt an Aussehen und Wesen.
Nun ging sie zu dem kleinen Fortepiano und intonirte ein
Lied. „Sie können singen?" wandte sic sich an Fritz.
„Nur Studentenlieder," meinte dieser nnd gab auf
dem kleinen Instrument die Melodie an.
Gilda wiederholte diese und spielte sic dann sofort als
Begleitung. Fritz siel mit einer Riesenstimme ein.
Gilda sprang entsetzt vom Klavier auf und hielt sich
die Ohren zu. „Um Gottes willen, hören Sie auf!" rief
sie. „Nein, singen können Sie nicht; Sie mögen immer-
hin ein Luchs, Fuchs, Löwe, Bär sein, von einer Nachtigall
aber haben Sie nicht die Spur. Das war. furchtbar!"
Alles lachte.
„Als Student galt ich für einen guten Sänger," be-
merkte Fritz. Man lachte von neuem und Fritz mit.
Dann rief ihn der Dienst wieder auf Deck, denn er hatte
erst in zwei Stunden ganze Ablösung.
Am nächsten Morgen um acht Uhr war Gilda schon
fertig angekleidet, ein gelbes Foulard um den brünetten
Kopf und wohl in Mantel und Plaid verhüllt, erschien
sie ans dem Deck und spähte in die noch von Nebeln um-
zogene See hinaus. Diese röteten sich, wallten durch-
einander, wurden weiß, sielen als bräunlicher Hauch in
das Meer, und die Sonne warf eine blitzende Goldbahn
auf das spiegelnde Wasser.
Das Schiff brauste mit voller Kraft vorwärts und
zur linken der Fahrenden lag, wie ein hellblauer Dunst-
streifen, die Küste.
Holle stand auf seinem Kapitänsposten und maß am
Oktanten, Fritz rauchte hinten am Schornsteine seine kurze
Pfeife.
„Guten Morgen, Herr Holle!" rief Gilda. Dieser
erwiderte den Gruß tief achtungsvoll.
„Schmeckt die Pfeife?" begrüßte Gilda Fritz-
„Wohl, Fräulein. Sie heißt an Bord übrigens See-
mannStrost," gab dieser zurück.
„Gilda warf einen Blick ans Holle, und als sie diesen
ganz vertieft in seine Berechnungen sah, näherte sie sich
Fritz.
Illustri rte Welt.
„Sie haben keinen Wind heute am Schornstein," rief
sie ihm zu.
„Nein, -Fräulein, deshalb stehe ich hier, der Wind
braucht mir nicht den Tabak wegzurauchen."
„Bitte, machen Sie mir etwas Platz, es wird wohl
für zwei Raum haben."
„Für drei, Fräulein, die nicht so wie meine Wenig-
keit sind."
„Herr Holle hat scheint's Dienst?" sprach jetzt Gilda
lauter.
„Ja, der Tageskurs wird fixirt," erklärte Fritz.
„Nun, dann können Sie mir berichten, wo wir eigent-
lich jetzt sind?" sprach Gilda, nah' an den Steuermann
tretend.
„Es wird die Höhe von Nizza sein. Sehen Sie die
dunklen Punkte dort, das müssen die wunderschönen Inseln
bei Nizza nnd Cannes sein," erklärte Fritz.
„Wie lange fahren wir noch bis Marseille?" erkundigte
sich Gilda.
„Zehn Stunden, abends acht können wir ankommen,
ob noch einlaufen, ist die Frage," berichtete Fritz.
Herr Holle gab sichtbare Zeichen von Unruhe bei
diesem lebhaften Gespräch. Es störte ihn in seinen Be-
rechnungen, er zog die Brauen zusammen und ein finsterer
Blick flog zu dem Schornstein hinüber. „Steuermann!"
rief er.
„Kapitän?" schallte es zurück uud Fritz trat hervor.
„Bitte, gehen Sie mir etwas zur Hand. Wie viel
Glasen haben wir?"
„Es hat eben sechs geschlagen."
„Dann stimmt meine Rechnung nicht. Bitte, lesen
Sie hier ab," und Herr Holle übergab dem Steuermann
das Meßinstrument.
Der Steuermann leistete ruhig und behaglich den
Dienst, Gilda jedoch machte ein verdrossenes Gesicht und
ging in die Kapitänskajüte zu ihrem Vater hinunter.
Als Gilda verschwunden war, konnte nach wenigen
Minuten Kapitän Holle seine Berechnungen allein fort-
setzen und er entließ den Steuermann, der gemächlich
seinen Platz wieder hinter dem Kamin einnahm und weiter
rauchte.
Der junge Schiffsführer sandte ihm einen unfreund-
lichen, scharfen Blick aus seinen dunklen Augen nach. Er-
ging nicht in die Kapitänskajüte das Schiffsbuch zu führen,
bevor Fritz Pestaluz wieder Dienst hatte und am Steuer-
ruder stand. Dann rief er, an der Kajütenthüre stehend,
scheinbar zu jemand auf Deck, in Wahrheit aber, damit
Gilda es unten hören sollte: „Es ist verboten, mit dem
Steuermann am Rade zu sprechen!"
Gilda vernahm die Worte wohl, sie biß den Mund
zusammen, in ihre Augen kam ein trotziger Ausdruck uud
sie murmelte: „Es ist nichts als blinde, dumme Eifersucht
von ihm, aber es hilft ihn alles nichts, alles nichts!"
Den ganzen Tag über wußte es Holle sehr geschickt
einzurichten, daß Fritz von Gilda entfernt blieb, indem er,
sobald Gilda auf das Verdeck kam, an ihre Seite trat
und ihr dies und jenes erklärte, und als der Steuermann
abgelöst wurde, — Herr Hoorn übernahm auf eine Stunde
die Führung des Neptuns, was dem alten Kapitän
Spaß machte, da das Schiff auf hoher See und so weit
von der Küste lief, daß es gar keiner besonderen Leitung
bedurfte — bat Herr Holle dann Fritz, in der Kapitäns-
koje ihm die verschiedenen Schiffsjournale und Bücher
ordnen und führen zu helfen. Dieser unterzog sich dem
mit größtem Vergnügen, da er hiebei manches lernte oder
fast vergessene Dinge auffrischte.
Gilda saß dann bei ihrem Vater auf dem Deck im
Korbstuhl, schaute mit deu Gläsern auf die See hinaus
oder zur Küste hinüber, beobachtete vorbcifahrende Schiffe
oder las, machte jedoch kein sehr vergnügtes Gesicht. Im
Gegenteil, die Zornfaltc zwischen ihren zusammen-
gewachsenen Augenbrauen vertiefte sich und ihr Mund
schloß sich fester. Die Gegenwart Holles und das ihr
sehr merkbare Bestreben, sie von dem neuen Steuermanne
fern zu halten, lasteten immer drückender auf ihr und
machten ihr den Mann wahrhaft verhaßt. Je mehr diese
Person Schatten bekam, nm so Heller strahlte in ihren
Augen der frische, offene, fröhliche, kindliche Fritz. Sie
war entzückt über alle seine Tugenden und fand seine
Fehler, selbst seinen Mangel an Galanterie, liebenswürdig
und drollig.
So verging der Tag, das gemeinsame Mittagsmahl,
worauf sich Gilda so gefreut hatte, verlies durch die finstere
Laune Holles, der reizbar und streitsüchtig sich zeigte, still
und einsilbig, und das viele Trinken ihres Vaters auf
See, dessen sich Gilda von ihrer Ueberfahrt von New-Pork
her jetzt wieder erinnerte, trug auch nicht dazu bei, das
Mahl für sie heiter zu machen.
Es ward Abend, Nacht. Die Glocke ertönte, die
SchisfSpfcife ließ sich langdaucrnd gellend vernehmen.
Es wurden Befehle gegeben, man lief eilig hin und her
uud Gilda entdeckte in der Ferne, scheinbar auf dem
Wasser liegend, hclleS Licht, das bald größer, bald kleiner
wurde. Es kam vom Leuchtturm des Marseiller Hafens,
daS Schiff fuhr pfeifend, langsam die Richtung ändernd,
weiter, dann machte es fast Halt. Es wurde ein Signal
mit einem der kleinen buntfarbigen Lichter gewechselt, man
zog ein grünes Licht dort drüben auf, dann zugleich ein
gelbes und ein blaues. Das besagte: „Hindernis im Hafen,
es kann kein Lotse mehr herauskommen!" und so hieß es
denn „Stop!" und der Dampf rauschte heraus und das
Schiff lag schaukelnd, schwankend still. Die Wachen
wurden verteilt und man ging im Angesicht des ersten
Zieles zur Ruhe.
*
Zu derselben Zeit etwa als der Neptun aus dem Hafen
von Genua dampfte, verließ Herr Nenkuhn das Zimmer,
wo er mit Therese Holle die bedeutungsvolle Unterhaltung
gehabt, und kaum hatte ihn die Köchin aus dem Hause
gehen sehen, da eilte sie zu ihrem Fräulein, blieb aber wie
versteinert stehen bei dem Anblick, den ihre Herrin ihr
darbot. Die lag mitten im Zimmer auf den Knieen,
bleich, mit ganz entstellten Gesichtszügen, wahnsinnigen
Augen und rang die Hände.
Die Köchin stand wie angewurzelt still und Therese
rang die Hände weiter, ballte sie zu Fäusten, fuhr sich
wild in die Haare, wand und krümmte ihren Körper wie
unter den entsetzlichsten Schmerzen.
„Dieser verfluchte Junge, was kann er meinem
Fräulein angethan haben?" rief die Köchin und sing an
die Verzweifelnde zu rütteln. „Kommen Sie zu sich,
Fräulein Therese!" sprach sic; „der Mensch soll mir noch
einmal kommen, solch eine Frechheit — o diese heutige
Jugend!"
Therese sprang wild auf und starrte die Köchin aus-
druckslos an, so daß diese Furcht bekam.
„Ich habe ihm ja gesagt, daß Sie sich auf keine Lieb-
schaft einlassen," sprach sic ängstlich weiter. „Daß ich
keinen Finger dabei rühre, und habe ihm gestern abend
den Laufpaß gegeben, und nun kommt der freche Mensch,
ganz verkleidet, wie ein Schauspieler, ins Haus und macht
seine Schwenzereien und Alfanzereien vor Ihnen, daß sie
so erschrecken. Er muß es ja ganz abscheulich getrieben
haben, daß Sie so außer sich sind — da sollte man die
Polizei holen!"
Bei diesem Worte schien Therese zu sich zu kommen,
sie packte den Arm der Köchin, so daß diese das Ge-
sicht verzog. „Von wem reden Sie da?" stieß sie hervor.
„Na, von dem Studenten."
„Studenten, Studenten?" wiederholte Therese Holle.
„Ja, dem unverschämten Menschen, der sich in Sie
vergafft hat und nun so schöne Streiche macht."
„Vergasst hat, vergafft hat?" suchte Therese die Worte
der Köchin zu begreifen.
„Er winselte und seufzte, wie ein kleiner Wurm vor
mir," fuhr die Köchin fort, „und that so zahn: und furcht-
sam, als ob er kein Wässerchen trüben könnte und jetzt
kommt er, gebügelt und geschniegelt, und fährt wie ein
Marder auf das Fräulein los," gab die Köchin ihre Ent-
rüstung weiter kund; „aus dem kann noch einmal was
Schönes werden!"
„Was, wer, Christine?" rief mit fliegendem Atem
Therese aus.
„Na, der Student, Fräulein! Er machte sich schon
vor ein paar Tagen an mich und bot mir zwanzig Mark,
damit ich ihm von Ihnen erzählen sollte," erwiderte die
Köchin. „Ich habe ihm sein Thnn verwiesen, gestern
lauerte er mir wieder auf und wollte allerlei von Ihnen
wissen und sagte, daß er Sie auf der Post getroffen, der
Schwindler, und gesehen, daß Sie einen Brief dort ge-
holt. Da ward es mir doch zu toll und ich habe —"
„Meinst Du diesen Menschen, der da vorhin hier
war, Christine?" fragte angstvoll mit gepreßter Stimme
Therese.
„Ja, den, Fräulein!"
„Und er sagte, er hätte mich auf der Post gesehen?"
„Das log er, und ich überführte ihn, denn ich sagte
ihm, Sie wären einfach spazieren gegangen, das wußte
ich von Ihnen selbst."
Therese sah darauf eine ganze Weile starr vor sich
hin. Plötzlich sprach sic entschieden und seltsam ruhig:
„Es ist gut, Christine; sage keinem Menschen, auch dem
Vater nicht, etwas von dieser Sache. Wie spät ist es?"
„Mittags zwölf, und der Herr Inspektor wird bald
kommen," erwiderte die Köchin.
„Ich muß einen AuSgang machen," fuhr darauf Therese
fort, „und komme zu Mittag nicht nach Hause."
„Zu Mittag nicht nach Hause?" wiederholte erstaunt,
verwundert die Köchin.
„Ja," sprach Therese weiter, „deshalb braucht man nicht
auf mich zu warten. Ich gehe zu Mengs über Land —
mit einer Droschke."
„So plötzlich?" fiel die Köchin, das Fräulein bedenk-
lich anschend, ein.
„Ja, in der Angelegenheit mit diesem Menschen, aber
schwcige davon!" unterwies Therese, „nnd jetzt sorge nur,
daß das Esseu fertig wird und der Vater nicht zu spät
auf das Amt kommt."
Christine verließ kopfschüttelnd das Wohngemach, und
Therese ging hastig nach dem Teil des Hauses, wo ihr
Zimmer lag.
„Da ist etwas nicht richtig," murmelte Christine, mit
Pfannen und Schüsseln wie wütend hantircnd. „Ob sie
den Studenten von früher her kennt?" aber das ist ja
gar nicht möglich. „Wie soll denn das zugegangen sein,
sie ist ja nicht von meinen Augen weggekommcn? Ja, die
„Ja, ich fürchte nur, der Bär wird überwiegen," gab
Fritz zurück. „Ich bin in Damengesellschaft stets als
solcher taxirt worden."
„Nun, vielleicht ist bei einer Dame diese Quantität
so verringert, daß nnr ein Eichkätzchen übrig bleibt," warf
das Mädchen dagegen ein. Alles lachte, ans die Hünen-
gestalt des blonden Mannes blickend.
Herr Holle sah zu diesem Schcrzverkehr finster und
ging in seine Koje, ihm war der heitere Ton nicht eigen.
Das Schiff hatte schon am Morgen früh Dampf gemacht,
die Ankerkcttcn wurden heraufgewunden, die Steuerbeamten,
die beiden Lotsen kamen an. Der eine Lotse trat an das
Steuerrad neben Fritz, der andere stellte sich vorn auf
dem Kapitänsauslug neben Holle und Hoorn auf, das
Kommando erschallte und das Schiff ging vorwärts und
drehte sich. Langsam kam es aus dem Gewirr der anderen
Fahrzeuge heraus, nahm mehr Dampf und zog aus dem
Hafen. An dein hohen Lcuchtturm auf dem Felsen, links
an der kleinen Laterne an der Spitze des langen Molo
wurden die üblichen Grüße gewechselt und das an den
Berg gelagerte Häusermeer Genuas sank immer tiefer
herab und die grauen Bergschroffen mit den Forts,
Bastionen und Citadellen traten mächtiger empor; zuletzt
war die volkswimmelnde Stadt mit ihren ragenden
Kuppeln und Türmen nur noch ein weißschimmernder
Streifen auf dem blauen bewegten Wasser, und die Berge
duftig bläuliche Höhen, von denen die gewaltigen Kriegs-
werke als rosa Punkte matt sich herauShoben. Neber allen
traten nun die von Schnee und Eis schimmernden Zacken
und Gipfel der Apenninen und Apuanen empor, bald
verschwanden auch diese in Glanz und Duft und vor den
Fahrenden lag das Meer, blitzend wie ein unendlicher
Spiegel, rosa, blau, gelb, purpurn, grün, denn es war
nachmittag vier Uhr geworden und die Sonne stand schon
schräg. Am Bugspriet brauste eine große Schaumwcllc
und hinter dem Schiffe liefen blaupurpurne Streifen weit
auseinander.
Im Süden und Norden sah man noch die Küste, un-
zählige, blaugrüne, leuchtende Buchten bildend, begrenzt
von violettblauen Bergen, über welchen die beschneiten
Kämme dcrMeeralpen und der Apenninenhinnnel dämmerten.
Dieser wurde blasser, gelber, das Meer schien flüssiges
Messing, dann Goldkupfcr und schließlich lag es tief
schwarzblan da, indes ein klarer, sterngestickter Nachthimmel
sich über ihm und dem Schiss wölbte. Dort waren die
Laternen angezündct, in seltsamer Beleuchtung, bald schatten-
haft schwarz, bald grell vom Licht angestrahlt, bewegten
sich die Matrosen, wiederholten Kommandorufe, führten
die Befehle aus, und eine Glocke gab in bestimmten Inter-
vallen kurze, lautklingende Zeichen.
Es ward kühl und wer keinen Dienst hatte, begab sich
zum Nachtmahl. Fritz war abgelöst werden durch den
Vollmatrosen nnd saß mit dem Kapitän, Holle und Gilda
am Tisch.
Die Unterhaltung war belebt, der alte Kapitän sehr an-
geregt; seit einem Jahre nun hatte er wieder Schisfsplanken
unter den Füßen und Theergeruch in der Nase, wie er sich
ausdrückte, und Gildas Augen glänzten, sie war ganz ver-
wandelt, lustig und neckisch, wie sie Herr Holle floch nie
gesehen hatte, nm Jahre verjüngt an Aussehen und Wesen.
Nun ging sie zu dem kleinen Fortepiano und intonirte ein
Lied. „Sie können singen?" wandte sic sich an Fritz.
„Nur Studentenlieder," meinte dieser nnd gab auf
dem kleinen Instrument die Melodie an.
Gilda wiederholte diese und spielte sic dann sofort als
Begleitung. Fritz siel mit einer Riesenstimme ein.
Gilda sprang entsetzt vom Klavier auf und hielt sich
die Ohren zu. „Um Gottes willen, hören Sie auf!" rief
sie. „Nein, singen können Sie nicht; Sie mögen immer-
hin ein Luchs, Fuchs, Löwe, Bär sein, von einer Nachtigall
aber haben Sie nicht die Spur. Das war. furchtbar!"
Alles lachte.
„Als Student galt ich für einen guten Sänger," be-
merkte Fritz. Man lachte von neuem und Fritz mit.
Dann rief ihn der Dienst wieder auf Deck, denn er hatte
erst in zwei Stunden ganze Ablösung.
Am nächsten Morgen um acht Uhr war Gilda schon
fertig angekleidet, ein gelbes Foulard um den brünetten
Kopf und wohl in Mantel und Plaid verhüllt, erschien
sie ans dem Deck und spähte in die noch von Nebeln um-
zogene See hinaus. Diese röteten sich, wallten durch-
einander, wurden weiß, sielen als bräunlicher Hauch in
das Meer, und die Sonne warf eine blitzende Goldbahn
auf das spiegelnde Wasser.
Das Schiff brauste mit voller Kraft vorwärts und
zur linken der Fahrenden lag, wie ein hellblauer Dunst-
streifen, die Küste.
Holle stand auf seinem Kapitänsposten und maß am
Oktanten, Fritz rauchte hinten am Schornsteine seine kurze
Pfeife.
„Guten Morgen, Herr Holle!" rief Gilda. Dieser
erwiderte den Gruß tief achtungsvoll.
„Schmeckt die Pfeife?" begrüßte Gilda Fritz-
„Wohl, Fräulein. Sie heißt an Bord übrigens See-
mannStrost," gab dieser zurück.
„Gilda warf einen Blick ans Holle, und als sie diesen
ganz vertieft in seine Berechnungen sah, näherte sie sich
Fritz.
Illustri rte Welt.
„Sie haben keinen Wind heute am Schornstein," rief
sie ihm zu.
„Nein, -Fräulein, deshalb stehe ich hier, der Wind
braucht mir nicht den Tabak wegzurauchen."
„Bitte, machen Sie mir etwas Platz, es wird wohl
für zwei Raum haben."
„Für drei, Fräulein, die nicht so wie meine Wenig-
keit sind."
„Herr Holle hat scheint's Dienst?" sprach jetzt Gilda
lauter.
„Ja, der Tageskurs wird fixirt," erklärte Fritz.
„Nun, dann können Sie mir berichten, wo wir eigent-
lich jetzt sind?" sprach Gilda, nah' an den Steuermann
tretend.
„Es wird die Höhe von Nizza sein. Sehen Sie die
dunklen Punkte dort, das müssen die wunderschönen Inseln
bei Nizza nnd Cannes sein," erklärte Fritz.
„Wie lange fahren wir noch bis Marseille?" erkundigte
sich Gilda.
„Zehn Stunden, abends acht können wir ankommen,
ob noch einlaufen, ist die Frage," berichtete Fritz.
Herr Holle gab sichtbare Zeichen von Unruhe bei
diesem lebhaften Gespräch. Es störte ihn in seinen Be-
rechnungen, er zog die Brauen zusammen und ein finsterer
Blick flog zu dem Schornstein hinüber. „Steuermann!"
rief er.
„Kapitän?" schallte es zurück uud Fritz trat hervor.
„Bitte, gehen Sie mir etwas zur Hand. Wie viel
Glasen haben wir?"
„Es hat eben sechs geschlagen."
„Dann stimmt meine Rechnung nicht. Bitte, lesen
Sie hier ab," und Herr Holle übergab dem Steuermann
das Meßinstrument.
Der Steuermann leistete ruhig und behaglich den
Dienst, Gilda jedoch machte ein verdrossenes Gesicht und
ging in die Kapitänskajüte zu ihrem Vater hinunter.
Als Gilda verschwunden war, konnte nach wenigen
Minuten Kapitän Holle seine Berechnungen allein fort-
setzen und er entließ den Steuermann, der gemächlich
seinen Platz wieder hinter dem Kamin einnahm und weiter
rauchte.
Der junge Schiffsführer sandte ihm einen unfreund-
lichen, scharfen Blick aus seinen dunklen Augen nach. Er-
ging nicht in die Kapitänskajüte das Schiffsbuch zu führen,
bevor Fritz Pestaluz wieder Dienst hatte und am Steuer-
ruder stand. Dann rief er, an der Kajütenthüre stehend,
scheinbar zu jemand auf Deck, in Wahrheit aber, damit
Gilda es unten hören sollte: „Es ist verboten, mit dem
Steuermann am Rade zu sprechen!"
Gilda vernahm die Worte wohl, sie biß den Mund
zusammen, in ihre Augen kam ein trotziger Ausdruck uud
sie murmelte: „Es ist nichts als blinde, dumme Eifersucht
von ihm, aber es hilft ihn alles nichts, alles nichts!"
Den ganzen Tag über wußte es Holle sehr geschickt
einzurichten, daß Fritz von Gilda entfernt blieb, indem er,
sobald Gilda auf das Verdeck kam, an ihre Seite trat
und ihr dies und jenes erklärte, und als der Steuermann
abgelöst wurde, — Herr Hoorn übernahm auf eine Stunde
die Führung des Neptuns, was dem alten Kapitän
Spaß machte, da das Schiff auf hoher See und so weit
von der Küste lief, daß es gar keiner besonderen Leitung
bedurfte — bat Herr Holle dann Fritz, in der Kapitäns-
koje ihm die verschiedenen Schiffsjournale und Bücher
ordnen und führen zu helfen. Dieser unterzog sich dem
mit größtem Vergnügen, da er hiebei manches lernte oder
fast vergessene Dinge auffrischte.
Gilda saß dann bei ihrem Vater auf dem Deck im
Korbstuhl, schaute mit deu Gläsern auf die See hinaus
oder zur Küste hinüber, beobachtete vorbcifahrende Schiffe
oder las, machte jedoch kein sehr vergnügtes Gesicht. Im
Gegenteil, die Zornfaltc zwischen ihren zusammen-
gewachsenen Augenbrauen vertiefte sich und ihr Mund
schloß sich fester. Die Gegenwart Holles und das ihr
sehr merkbare Bestreben, sie von dem neuen Steuermanne
fern zu halten, lasteten immer drückender auf ihr und
machten ihr den Mann wahrhaft verhaßt. Je mehr diese
Person Schatten bekam, nm so Heller strahlte in ihren
Augen der frische, offene, fröhliche, kindliche Fritz. Sie
war entzückt über alle seine Tugenden und fand seine
Fehler, selbst seinen Mangel an Galanterie, liebenswürdig
und drollig.
So verging der Tag, das gemeinsame Mittagsmahl,
worauf sich Gilda so gefreut hatte, verlies durch die finstere
Laune Holles, der reizbar und streitsüchtig sich zeigte, still
und einsilbig, und das viele Trinken ihres Vaters auf
See, dessen sich Gilda von ihrer Ueberfahrt von New-Pork
her jetzt wieder erinnerte, trug auch nicht dazu bei, das
Mahl für sie heiter zu machen.
Es ward Abend, Nacht. Die Glocke ertönte, die
SchisfSpfcife ließ sich langdaucrnd gellend vernehmen.
Es wurden Befehle gegeben, man lief eilig hin und her
uud Gilda entdeckte in der Ferne, scheinbar auf dem
Wasser liegend, hclleS Licht, das bald größer, bald kleiner
wurde. Es kam vom Leuchtturm des Marseiller Hafens,
daS Schiff fuhr pfeifend, langsam die Richtung ändernd,
weiter, dann machte es fast Halt. Es wurde ein Signal
mit einem der kleinen buntfarbigen Lichter gewechselt, man
zog ein grünes Licht dort drüben auf, dann zugleich ein
gelbes und ein blaues. Das besagte: „Hindernis im Hafen,
es kann kein Lotse mehr herauskommen!" und so hieß es
denn „Stop!" und der Dampf rauschte heraus und das
Schiff lag schaukelnd, schwankend still. Die Wachen
wurden verteilt und man ging im Angesicht des ersten
Zieles zur Ruhe.
*
Zu derselben Zeit etwa als der Neptun aus dem Hafen
von Genua dampfte, verließ Herr Nenkuhn das Zimmer,
wo er mit Therese Holle die bedeutungsvolle Unterhaltung
gehabt, und kaum hatte ihn die Köchin aus dem Hause
gehen sehen, da eilte sie zu ihrem Fräulein, blieb aber wie
versteinert stehen bei dem Anblick, den ihre Herrin ihr
darbot. Die lag mitten im Zimmer auf den Knieen,
bleich, mit ganz entstellten Gesichtszügen, wahnsinnigen
Augen und rang die Hände.
Die Köchin stand wie angewurzelt still und Therese
rang die Hände weiter, ballte sie zu Fäusten, fuhr sich
wild in die Haare, wand und krümmte ihren Körper wie
unter den entsetzlichsten Schmerzen.
„Dieser verfluchte Junge, was kann er meinem
Fräulein angethan haben?" rief die Köchin und sing an
die Verzweifelnde zu rütteln. „Kommen Sie zu sich,
Fräulein Therese!" sprach sic; „der Mensch soll mir noch
einmal kommen, solch eine Frechheit — o diese heutige
Jugend!"
Therese sprang wild auf und starrte die Köchin aus-
druckslos an, so daß diese Furcht bekam.
„Ich habe ihm ja gesagt, daß Sie sich auf keine Lieb-
schaft einlassen," sprach sic ängstlich weiter. „Daß ich
keinen Finger dabei rühre, und habe ihm gestern abend
den Laufpaß gegeben, und nun kommt der freche Mensch,
ganz verkleidet, wie ein Schauspieler, ins Haus und macht
seine Schwenzereien und Alfanzereien vor Ihnen, daß sie
so erschrecken. Er muß es ja ganz abscheulich getrieben
haben, daß Sie so außer sich sind — da sollte man die
Polizei holen!"
Bei diesem Worte schien Therese zu sich zu kommen,
sie packte den Arm der Köchin, so daß diese das Ge-
sicht verzog. „Von wem reden Sie da?" stieß sie hervor.
„Na, von dem Studenten."
„Studenten, Studenten?" wiederholte Therese Holle.
„Ja, dem unverschämten Menschen, der sich in Sie
vergafft hat und nun so schöne Streiche macht."
„Vergasst hat, vergafft hat?" suchte Therese die Worte
der Köchin zu begreifen.
„Er winselte und seufzte, wie ein kleiner Wurm vor
mir," fuhr die Köchin fort, „und that so zahn: und furcht-
sam, als ob er kein Wässerchen trüben könnte und jetzt
kommt er, gebügelt und geschniegelt, und fährt wie ein
Marder auf das Fräulein los," gab die Köchin ihre Ent-
rüstung weiter kund; „aus dem kann noch einmal was
Schönes werden!"
„Was, wer, Christine?" rief mit fliegendem Atem
Therese aus.
„Na, der Student, Fräulein! Er machte sich schon
vor ein paar Tagen an mich und bot mir zwanzig Mark,
damit ich ihm von Ihnen erzählen sollte," erwiderte die
Köchin. „Ich habe ihm sein Thnn verwiesen, gestern
lauerte er mir wieder auf und wollte allerlei von Ihnen
wissen und sagte, daß er Sie auf der Post getroffen, der
Schwindler, und gesehen, daß Sie einen Brief dort ge-
holt. Da ward es mir doch zu toll und ich habe —"
„Meinst Du diesen Menschen, der da vorhin hier
war, Christine?" fragte angstvoll mit gepreßter Stimme
Therese.
„Ja, den, Fräulein!"
„Und er sagte, er hätte mich auf der Post gesehen?"
„Das log er, und ich überführte ihn, denn ich sagte
ihm, Sie wären einfach spazieren gegangen, das wußte
ich von Ihnen selbst."
Therese sah darauf eine ganze Weile starr vor sich
hin. Plötzlich sprach sic entschieden und seltsam ruhig:
„Es ist gut, Christine; sage keinem Menschen, auch dem
Vater nicht, etwas von dieser Sache. Wie spät ist es?"
„Mittags zwölf, und der Herr Inspektor wird bald
kommen," erwiderte die Köchin.
„Ich muß einen AuSgang machen," fuhr darauf Therese
fort, „und komme zu Mittag nicht nach Hause."
„Zu Mittag nicht nach Hause?" wiederholte erstaunt,
verwundert die Köchin.
„Ja," sprach Therese weiter, „deshalb braucht man nicht
auf mich zu warten. Ich gehe zu Mengs über Land —
mit einer Droschke."
„So plötzlich?" fiel die Köchin, das Fräulein bedenk-
lich anschend, ein.
„Ja, in der Angelegenheit mit diesem Menschen, aber
schwcige davon!" unterwies Therese, „nnd jetzt sorge nur,
daß das Esseu fertig wird und der Vater nicht zu spät
auf das Amt kommt."
Christine verließ kopfschüttelnd das Wohngemach, und
Therese ging hastig nach dem Teil des Hauses, wo ihr
Zimmer lag.
„Da ist etwas nicht richtig," murmelte Christine, mit
Pfannen und Schüsseln wie wütend hantircnd. „Ob sie
den Studenten von früher her kennt?" aber das ist ja
gar nicht möglich. „Wie soll denn das zugegangen sein,
sie ist ja nicht von meinen Augen weggekommcn? Ja, die