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Illustrirte Welt.
Uebermnt zu seiner eigenen, kalten, gleichmäßigen, statuen-
haften Ruhe herabdämpfen wolle.
„Ja, Mama, was willst Du?" rief sie in fragendem
Ton, den einen Fuß über die niedrige Fcnsterbrüstung in
das Gemach stellend.
„Mein liebes Kind, Dein Haar in solcher Unordnung,
Dein Kleid zerrissen, wie unglücklich trifft sich das! Komm
doch herein, Lilly, siehst Du denn Herrn Sax nicht?"
Weder durch ihre eigene unordentliche Erscheinung
noch durch die Gegenwart des gestrengen Herrn im aller-
geringsten aus der Fassung gebracht, sprang Lilly ins
Zimmer und bot ihm die Hand.
Herr Sax machte ihr eine förmliche Verbeugung und
schwieg, während ihre Mutter, die zu aufgeregt war, um
zu sprechen, sich anscheinend mit der Wolle in ihrem
Arbeitskorbe zu schaffen machte und dann Straminstiche
ausznzählen anfing.
Lilly blickte von dem einen zu dem andern mit dem
Ausdrucke stummer Frage in den lieblichen Zügen, ver-
geblich bemüht, zu erraten, weshalb man sie eigentlich
hieher bcschieden.
„Frau Willingham," sprach Sax nach einer verlegenen
Panse, „wollen Sie so freundlich sein, Ihre Tochter von
dem Zweck meines Besuchs in Kenntnis zu setzen?"
„Gewiß, o ja, gewiß, wenn Sie es wünschen. Mein
liebes Kind, meine liebe Lilly, Herr Sax hat uns, hat
Dir die Ehre erwiesen, das heißt, er
wünscht — er ist gekommen — ach mein
Gott, wie soll ich nur sprechen, und Du
in diesem unordentlichen Zustande! Er ist
gekommen, uni die Frage an Dich zu stellen,
ob Du — ob Du seine Frau werden willst."
Lilly ließ das Springseil fallen und
starrte mit ihren großen Augen verwundert
bald die Mutter, bald deren Gast an.
,/Ja, Ihre Frau Mutter hat Ihnen die
Ursache meines Kommens klar auseinander-
gesetzt," bestätigte Herr Sax mit einer
steifen Neigung des Hauptes.
„Mich!" rief Lilly so laut, als ihre
Verblüffung ihr überhaupt zu sprechen er-
laubte.
„Ja, mein liebes Kind, ja. Er beab-
sichtigt Dich zur Herrin seines Heims zu
machen, und ein reizenderes Heim als das
seine findet man ja überhaupt weit und
breit nicht."
„Aber, Mama," unterbrach sie Lilly,
während der verblüffte Ausdruck ihres Ge-
sichtes sich in jenen der Bestürzung um-
wandelte, „aber, Mama, ich liebe ihn ja
gar nicht."
„Es wäre auch höchst unpassend, Fräu-
lein Willingham, wenn Sie dies jetzt schon
thäten," entgegnete Sax salbungsvoll. „Ich
glaube aber mit Bestimmtheit annehmen zu
dürfen, daß sowohl in meiner äußeren
Erscheinung als auch in meiner Stellung
nichts ist, was Ihnen Abneigung oder gar
Widerwillen einzuflößen im stände wäre."
„Widerwillen? O nein, Herr Sax,
aber —"
„Aber Sie möchten Zeit zum Ueber-
legen haben; das ist nicht mehr als recht
und billig. Glauben Sie mir, ich denke
wegen dieser mädchenhaften Schüchternheit
nicht schlechter von Ihnen."
„Es ist so plötzlich, so unerwartet."
„Gewiß, ich begreife bas. Darf ich
wenigstens die Hoffnung haben, daß Sie
keine andere Neigung im Herzen tragen?"
„Eine andere Neigung — o nein."
„Dann möchte ich mit Erlaubnis Ihrer Frau Mutter
Ihnen gerne wiederholen, was ich ihr bereits mitgeteilt
hinsichtlich der Vorteile, die ich jener Dame zu bieten
im stände bin, welche einwilligt, meine Frau zu werden."
Frau Willingham legte ihre Arbeit nieder und schritt
auf die Thüre zu.
„Mama, geh nicht fort, verlaß mich nicht!" rief Lilly
in thränenreicher Bestürzung.
„Mein liebes Kind, Du mußt wirklich in Ruhe an-
hören, was Herr Sax Dir mitzuteilen hat; vergiß nicht,
daß er eine glänzende Partie für Dich ist!"
Mit diesen Worten verschwand Frau Willingham, in-
dem sie ihre Tochter mit thränenfeuchten Angen Herrn
Sax gegenüber allein zurückließ.
Drittes Kapitel.
Fast eine halbe Stunde lang blieben Mnlgrave Sax
und Lilly Willingham in dem kleinen Wohnzimmer. Die
Vögel sangen fröhlich draußen auf den Bäumen ihre
munteren Weisen, und wenn eine leichte Brise Blätter
und Blüten bewegte, so drang auch der herrliche Duft
der Vegetation durch das offene Fenster in das Gemach.
Als Herr Sax das HanS verließ, bestieg er draußen
sein wohlgezäumtes Pferd, nicht in der gehobenen Stim-
mung eines acceptirten Bewerbers, aber auch nicht in der
trübseligen Gemütsverfassung eines Mannes, dessen be-
seligendstes Hoffen im Keime erstickt wurde. Während
der letzten Augenblicke war für ihn eine der wichtigsten
Lebensfragen verhandelt worden und trotzdem blieb er
ebenso kalt, ebenso besonnen wie immer, und die einzigen
Worte, welche er sprach, waren an seinen Reitknecht ge-
richtet.
„Peter," rief er, bereits mit einem Fuße im Steig-
bügel, „Sie müssen nach der Eisenbahnstation reiten, um
sich zu erkundigen, ob die Parlamentsberichte bereits ein-
getrosfen sind. Im Vorbeireiten halten Sie auch bei
Hamont an und fragen Sie nach Tweehers Pamphlet
über die Zuckernovellc."
Wenn aber auch Herr Sax, das gewichtige Parlaments-
mitglied, seinen vor wenigen Minuten ausgesprochenen
Heiratsantrag auf diese Weise aus seinem Gedächtnis zu
bannen im stände war, so fand doch Lilly ihre Aufgabe
nicht so leicht. Die Hufschläge seines Pferdes waren noch
nicht in der Ferne verklungen, als sie laut schluchzend ans
eine Chaiselongue sank und dort von der Schwester ge-
funden wurde, wie sie, das Haupt in die Kissen vergrabend,
bitterlich weinte.
„Lilly, was ist Dir denn, Herzblatt? So sprich doch!"
„Ich kann Dir's nicht sagen," schluchzte das Mädchen;
„aber ich bin sehr, sehr unglücklich!"
„Weshalb, meine Liebe?" fragte Rose besorgt, während
daö schelmische Lächeln aus ihren Mienen verschwand und
der halb spottende Ton einer weichen, herzlichen Rede-
weise Platz machte. „Was gäbe es, wovon Du Deiner
Schwester keine Mitteilung machen kannst? Was hat sich
denn zugetragen?"
Und Lilly hob ihr thräncnüberströmtcs Antlitz aus den
Kissen empor, strich das unordentliche Haar zurück, blickte
scheu um sich und sprach leise:
„Herr Sax ist hier gewesen!"
Rose lachte frisch und fröhlich auf.
„Ist das alles? Und weil der große Mann, von dem
die Leute so viel reden, Dich mit unordentlichen Haaren,
mit zerrissenem Kleide gesehen, weil er die Entdeckung
gemacht, daß Deine Schuhe und Strümpfe schmutzig —
deswegen fühlst Dn Dich sehr, sehr unglücklich?" Und
Rose brach in spöttisches Lachen aus. Lillys Thränen
aber brachen von neuem hervor. „Wie thöricht Du bist,
Lilly!" rief Rose ungeduldig. „WaS kann Dir daran
gelegen sein, ob Dich dieser Mensch sah oder nicht? Mir
wäre es unangenehm, wenn Dick mich unordentlich zu
Gesicht bekäme; aber Herr Sax oder der Rektor oder
irgend einer der anderen alten Herren, wie die mich sehen,
ist mir ganz einerlei."
„Ich — ich kann Dir nicht sagen, um was es sich
handelt — aber — aber ich wollte, ich wäre tot, das
wollte ich!"
„Wie lächerlich Du bist, Lilly! Du könntest wahrlich
keinen ärgeren Lärm schlagen, wenn Mulgrave Sax Dich
heiraten wollte!"
„Das will er ja auch!" stöhnte Lilly, indem sie von
neuem in Thränen ausbrach.
„Was?" Rose schrie beinahe laut auf.
„Er kam hieher, um — nm — nun, nm mich zu
fragen, ob ich nicht seine Gattin werden wolle," stammelte
Lilly, welche nur mühsam im stände war, die Worte deut-
lich hervorzubringen.
Rose stand mit weit aufgerissenen Augen vor ihr und
sah die Schwester so verblüfft an, daß sie gerade durch
diesen Ausdruck der Verblüffung aufhörte, schön zu sein.
Dann aber stieß sie plötzlich einen lauten Freudenschrei
aus, schwenkte den Hut hoch in der Luft herum und
tanzte um das Ruhebett herum, ans welchem die Schwester
lag.
„Lila didldum dei!" sang sie. „O Lilly, Du glückliches
Mädchen! Der schönste Besitz weit und breit in der ganzen
Gegend wird Dein eigen. Der Mann besitzt ein ungeheures
Vermögen und er ist ja gar nicht so alt, lange nicht so
alt zum Beispiel wie Daddy Dod, der Schuhmacher.
Wie heißt doch das Lied? ,Der König freit die Bett-
leriw; welche Pferde, Wagen und Diamanten Du haben
wirst! Und, o Lilly, erinnerst Du Dich der prächtigen
Pfirsiche, die am Spalier dort wachsen? Du wirst uns
doch welche schicken, nicht wahr? Ja, Lilly, WaS ist Dir
denn?"
„O, nicht — nicht!" rief die ältere
Schwester, indem sie beide Hände fest über
die Augen drückte; „es ist hart genug zu
ertragen —"
„Hart genug zu ertragen?" wiederholte
Rose verblüfft. „Mein Gott, ich wüßte
kein Mädchen, welches nicht glücklich wäre,
einen solchen Antrag anzunehmen. Bar-
bara Möller hat lange genug nach ihm
geangelt, und die ist doch eine Dekans-
tochter, er aber ist der Freund eines
Herzogs. Mein Gott, Lilly, Du wirst
sogar auf dem Schloß Besuch machen."
„Ich weiß nicht, was ich thun, was
ich sagen soll!" wehklagte Lilly; „o laß
mich mein Haupt an Deine Schulter lehnen
und mich mit Dir besprechen."
„Soll .das etwa heißen, Lilly, daß Du
seine Werbung nicht sofort angenommen
hast?"
„Er hat mir drei Tage Bedenkzeit ge-
währt."
„O, wenn ich an Deiner Stelle wäre,
ich würde ihn nehmen!" rief Rose lebhaft.
„Warum?"
„Er ist so reich."
„Ja, er ist reich."
„Und eine allgemein geachtete Persön-
lichkeit, er könnte Dir alles zu Füßen legen,
was dem Leben Reiz verleiht."
„Nein, nicht alles."
„Jedenfalls ist er eine glänzende
Partie."
„Das mag wohl sein," gestand Lilly
seufzend zn.
Rose umschlang ihre Schwester und
zog deren Kopf auf ihre Schulter herab;
dann neigte sie sich dem Ohre Lillys zu
und flüsterte leise:
„Sag mir, liebes Herz, hast Du einen
andern lieb?"
„Nein, nein, das ist cs eben, was mich
so unglücklich macht; ich sehe ein, daß es
allem äußeren Anscheine nach höchst un-
dankbar erscheinen mag, nicht stolz und glücklich über eine
solche Partie zu sein, aber ich bin es nun einmal nicht,
ohne einen Grund dafür angeben zu können. Rose, was
würdest Du thun, wenn Du an meiner Stelle wärst?"
„Ich würde ihn heiraten!" entgegnete das junge Mäd-
chen mit größter Bestimmtheit.
„Dann wollte ich nur, er hätte um Dich, anstatt um
mich ungehalten."
„Ach, das ist etwas ganz anderes; ich behaupte nicht,
daß ich für meine Person ihn zu nehmen geneigt wäre,
bin ich ja doch um so vieles jünger!"
„Nur um ein einziges Jahr!"
„Nun, ein einziges Jahr macht unter Umständen einen
wesentlichen Unterschied. Ich will nicht behaupten, daß
ich ihn lieb genug hätte, nm ihn zum Gatten zu wünschen,
aber ich finde, daß er für mich ein ganz prächtiger Schwager
wäre."
Lilly seufzte nur, während sie ihr schmerzendes Haupt
an die Schulter der Schwester legte; ohne weiter darauf
zu achten, welch lange Reihe von Vorzügen dieselbe bei
einer Partie hervorzuheben wußte, die sie wohl selbst kaum
geschlossen hätte.
„Er ist ein kluger Mann," bemerkte Lilly endlich,
mehr zn sich selbst als zu ihrer Schwester sprechend. „Er
soll im künftigen Ministerium eine dauernde Stellung
annehmen. Er spendet den Armen reichliche Gaben, und
obgleich er zn den hervorragenden Personen der Grafschaft
„Ich bin sehr, sehr unglücklich!"
Illustrirte Welt.
Uebermnt zu seiner eigenen, kalten, gleichmäßigen, statuen-
haften Ruhe herabdämpfen wolle.
„Ja, Mama, was willst Du?" rief sie in fragendem
Ton, den einen Fuß über die niedrige Fcnsterbrüstung in
das Gemach stellend.
„Mein liebes Kind, Dein Haar in solcher Unordnung,
Dein Kleid zerrissen, wie unglücklich trifft sich das! Komm
doch herein, Lilly, siehst Du denn Herrn Sax nicht?"
Weder durch ihre eigene unordentliche Erscheinung
noch durch die Gegenwart des gestrengen Herrn im aller-
geringsten aus der Fassung gebracht, sprang Lilly ins
Zimmer und bot ihm die Hand.
Herr Sax machte ihr eine förmliche Verbeugung und
schwieg, während ihre Mutter, die zu aufgeregt war, um
zu sprechen, sich anscheinend mit der Wolle in ihrem
Arbeitskorbe zu schaffen machte und dann Straminstiche
ausznzählen anfing.
Lilly blickte von dem einen zu dem andern mit dem
Ausdrucke stummer Frage in den lieblichen Zügen, ver-
geblich bemüht, zu erraten, weshalb man sie eigentlich
hieher bcschieden.
„Frau Willingham," sprach Sax nach einer verlegenen
Panse, „wollen Sie so freundlich sein, Ihre Tochter von
dem Zweck meines Besuchs in Kenntnis zu setzen?"
„Gewiß, o ja, gewiß, wenn Sie es wünschen. Mein
liebes Kind, meine liebe Lilly, Herr Sax hat uns, hat
Dir die Ehre erwiesen, das heißt, er
wünscht — er ist gekommen — ach mein
Gott, wie soll ich nur sprechen, und Du
in diesem unordentlichen Zustande! Er ist
gekommen, uni die Frage an Dich zu stellen,
ob Du — ob Du seine Frau werden willst."
Lilly ließ das Springseil fallen und
starrte mit ihren großen Augen verwundert
bald die Mutter, bald deren Gast an.
,/Ja, Ihre Frau Mutter hat Ihnen die
Ursache meines Kommens klar auseinander-
gesetzt," bestätigte Herr Sax mit einer
steifen Neigung des Hauptes.
„Mich!" rief Lilly so laut, als ihre
Verblüffung ihr überhaupt zu sprechen er-
laubte.
„Ja, mein liebes Kind, ja. Er beab-
sichtigt Dich zur Herrin seines Heims zu
machen, und ein reizenderes Heim als das
seine findet man ja überhaupt weit und
breit nicht."
„Aber, Mama," unterbrach sie Lilly,
während der verblüffte Ausdruck ihres Ge-
sichtes sich in jenen der Bestürzung um-
wandelte, „aber, Mama, ich liebe ihn ja
gar nicht."
„Es wäre auch höchst unpassend, Fräu-
lein Willingham, wenn Sie dies jetzt schon
thäten," entgegnete Sax salbungsvoll. „Ich
glaube aber mit Bestimmtheit annehmen zu
dürfen, daß sowohl in meiner äußeren
Erscheinung als auch in meiner Stellung
nichts ist, was Ihnen Abneigung oder gar
Widerwillen einzuflößen im stände wäre."
„Widerwillen? O nein, Herr Sax,
aber —"
„Aber Sie möchten Zeit zum Ueber-
legen haben; das ist nicht mehr als recht
und billig. Glauben Sie mir, ich denke
wegen dieser mädchenhaften Schüchternheit
nicht schlechter von Ihnen."
„Es ist so plötzlich, so unerwartet."
„Gewiß, ich begreife bas. Darf ich
wenigstens die Hoffnung haben, daß Sie
keine andere Neigung im Herzen tragen?"
„Eine andere Neigung — o nein."
„Dann möchte ich mit Erlaubnis Ihrer Frau Mutter
Ihnen gerne wiederholen, was ich ihr bereits mitgeteilt
hinsichtlich der Vorteile, die ich jener Dame zu bieten
im stände bin, welche einwilligt, meine Frau zu werden."
Frau Willingham legte ihre Arbeit nieder und schritt
auf die Thüre zu.
„Mama, geh nicht fort, verlaß mich nicht!" rief Lilly
in thränenreicher Bestürzung.
„Mein liebes Kind, Du mußt wirklich in Ruhe an-
hören, was Herr Sax Dir mitzuteilen hat; vergiß nicht,
daß er eine glänzende Partie für Dich ist!"
Mit diesen Worten verschwand Frau Willingham, in-
dem sie ihre Tochter mit thränenfeuchten Angen Herrn
Sax gegenüber allein zurückließ.
Drittes Kapitel.
Fast eine halbe Stunde lang blieben Mnlgrave Sax
und Lilly Willingham in dem kleinen Wohnzimmer. Die
Vögel sangen fröhlich draußen auf den Bäumen ihre
munteren Weisen, und wenn eine leichte Brise Blätter
und Blüten bewegte, so drang auch der herrliche Duft
der Vegetation durch das offene Fenster in das Gemach.
Als Herr Sax das HanS verließ, bestieg er draußen
sein wohlgezäumtes Pferd, nicht in der gehobenen Stim-
mung eines acceptirten Bewerbers, aber auch nicht in der
trübseligen Gemütsverfassung eines Mannes, dessen be-
seligendstes Hoffen im Keime erstickt wurde. Während
der letzten Augenblicke war für ihn eine der wichtigsten
Lebensfragen verhandelt worden und trotzdem blieb er
ebenso kalt, ebenso besonnen wie immer, und die einzigen
Worte, welche er sprach, waren an seinen Reitknecht ge-
richtet.
„Peter," rief er, bereits mit einem Fuße im Steig-
bügel, „Sie müssen nach der Eisenbahnstation reiten, um
sich zu erkundigen, ob die Parlamentsberichte bereits ein-
getrosfen sind. Im Vorbeireiten halten Sie auch bei
Hamont an und fragen Sie nach Tweehers Pamphlet
über die Zuckernovellc."
Wenn aber auch Herr Sax, das gewichtige Parlaments-
mitglied, seinen vor wenigen Minuten ausgesprochenen
Heiratsantrag auf diese Weise aus seinem Gedächtnis zu
bannen im stände war, so fand doch Lilly ihre Aufgabe
nicht so leicht. Die Hufschläge seines Pferdes waren noch
nicht in der Ferne verklungen, als sie laut schluchzend ans
eine Chaiselongue sank und dort von der Schwester ge-
funden wurde, wie sie, das Haupt in die Kissen vergrabend,
bitterlich weinte.
„Lilly, was ist Dir denn, Herzblatt? So sprich doch!"
„Ich kann Dir's nicht sagen," schluchzte das Mädchen;
„aber ich bin sehr, sehr unglücklich!"
„Weshalb, meine Liebe?" fragte Rose besorgt, während
daö schelmische Lächeln aus ihren Mienen verschwand und
der halb spottende Ton einer weichen, herzlichen Rede-
weise Platz machte. „Was gäbe es, wovon Du Deiner
Schwester keine Mitteilung machen kannst? Was hat sich
denn zugetragen?"
Und Lilly hob ihr thräncnüberströmtcs Antlitz aus den
Kissen empor, strich das unordentliche Haar zurück, blickte
scheu um sich und sprach leise:
„Herr Sax ist hier gewesen!"
Rose lachte frisch und fröhlich auf.
„Ist das alles? Und weil der große Mann, von dem
die Leute so viel reden, Dich mit unordentlichen Haaren,
mit zerrissenem Kleide gesehen, weil er die Entdeckung
gemacht, daß Deine Schuhe und Strümpfe schmutzig —
deswegen fühlst Dn Dich sehr, sehr unglücklich?" Und
Rose brach in spöttisches Lachen aus. Lillys Thränen
aber brachen von neuem hervor. „Wie thöricht Du bist,
Lilly!" rief Rose ungeduldig. „WaS kann Dir daran
gelegen sein, ob Dich dieser Mensch sah oder nicht? Mir
wäre es unangenehm, wenn Dick mich unordentlich zu
Gesicht bekäme; aber Herr Sax oder der Rektor oder
irgend einer der anderen alten Herren, wie die mich sehen,
ist mir ganz einerlei."
„Ich — ich kann Dir nicht sagen, um was es sich
handelt — aber — aber ich wollte, ich wäre tot, das
wollte ich!"
„Wie lächerlich Du bist, Lilly! Du könntest wahrlich
keinen ärgeren Lärm schlagen, wenn Mulgrave Sax Dich
heiraten wollte!"
„Das will er ja auch!" stöhnte Lilly, indem sie von
neuem in Thränen ausbrach.
„Was?" Rose schrie beinahe laut auf.
„Er kam hieher, um — nm — nun, nm mich zu
fragen, ob ich nicht seine Gattin werden wolle," stammelte
Lilly, welche nur mühsam im stände war, die Worte deut-
lich hervorzubringen.
Rose stand mit weit aufgerissenen Augen vor ihr und
sah die Schwester so verblüfft an, daß sie gerade durch
diesen Ausdruck der Verblüffung aufhörte, schön zu sein.
Dann aber stieß sie plötzlich einen lauten Freudenschrei
aus, schwenkte den Hut hoch in der Luft herum und
tanzte um das Ruhebett herum, ans welchem die Schwester
lag.
„Lila didldum dei!" sang sie. „O Lilly, Du glückliches
Mädchen! Der schönste Besitz weit und breit in der ganzen
Gegend wird Dein eigen. Der Mann besitzt ein ungeheures
Vermögen und er ist ja gar nicht so alt, lange nicht so
alt zum Beispiel wie Daddy Dod, der Schuhmacher.
Wie heißt doch das Lied? ,Der König freit die Bett-
leriw; welche Pferde, Wagen und Diamanten Du haben
wirst! Und, o Lilly, erinnerst Du Dich der prächtigen
Pfirsiche, die am Spalier dort wachsen? Du wirst uns
doch welche schicken, nicht wahr? Ja, Lilly, WaS ist Dir
denn?"
„O, nicht — nicht!" rief die ältere
Schwester, indem sie beide Hände fest über
die Augen drückte; „es ist hart genug zu
ertragen —"
„Hart genug zu ertragen?" wiederholte
Rose verblüfft. „Mein Gott, ich wüßte
kein Mädchen, welches nicht glücklich wäre,
einen solchen Antrag anzunehmen. Bar-
bara Möller hat lange genug nach ihm
geangelt, und die ist doch eine Dekans-
tochter, er aber ist der Freund eines
Herzogs. Mein Gott, Lilly, Du wirst
sogar auf dem Schloß Besuch machen."
„Ich weiß nicht, was ich thun, was
ich sagen soll!" wehklagte Lilly; „o laß
mich mein Haupt an Deine Schulter lehnen
und mich mit Dir besprechen."
„Soll .das etwa heißen, Lilly, daß Du
seine Werbung nicht sofort angenommen
hast?"
„Er hat mir drei Tage Bedenkzeit ge-
währt."
„O, wenn ich an Deiner Stelle wäre,
ich würde ihn nehmen!" rief Rose lebhaft.
„Warum?"
„Er ist so reich."
„Ja, er ist reich."
„Und eine allgemein geachtete Persön-
lichkeit, er könnte Dir alles zu Füßen legen,
was dem Leben Reiz verleiht."
„Nein, nicht alles."
„Jedenfalls ist er eine glänzende
Partie."
„Das mag wohl sein," gestand Lilly
seufzend zn.
Rose umschlang ihre Schwester und
zog deren Kopf auf ihre Schulter herab;
dann neigte sie sich dem Ohre Lillys zu
und flüsterte leise:
„Sag mir, liebes Herz, hast Du einen
andern lieb?"
„Nein, nein, das ist cs eben, was mich
so unglücklich macht; ich sehe ein, daß es
allem äußeren Anscheine nach höchst un-
dankbar erscheinen mag, nicht stolz und glücklich über eine
solche Partie zu sein, aber ich bin es nun einmal nicht,
ohne einen Grund dafür angeben zu können. Rose, was
würdest Du thun, wenn Du an meiner Stelle wärst?"
„Ich würde ihn heiraten!" entgegnete das junge Mäd-
chen mit größter Bestimmtheit.
„Dann wollte ich nur, er hätte um Dich, anstatt um
mich ungehalten."
„Ach, das ist etwas ganz anderes; ich behaupte nicht,
daß ich für meine Person ihn zu nehmen geneigt wäre,
bin ich ja doch um so vieles jünger!"
„Nur um ein einziges Jahr!"
„Nun, ein einziges Jahr macht unter Umständen einen
wesentlichen Unterschied. Ich will nicht behaupten, daß
ich ihn lieb genug hätte, nm ihn zum Gatten zu wünschen,
aber ich finde, daß er für mich ein ganz prächtiger Schwager
wäre."
Lilly seufzte nur, während sie ihr schmerzendes Haupt
an die Schulter der Schwester legte; ohne weiter darauf
zu achten, welch lange Reihe von Vorzügen dieselbe bei
einer Partie hervorzuheben wußte, die sie wohl selbst kaum
geschlossen hätte.
„Er ist ein kluger Mann," bemerkte Lilly endlich,
mehr zn sich selbst als zu ihrer Schwester sprechend. „Er
soll im künftigen Ministerium eine dauernde Stellung
annehmen. Er spendet den Armen reichliche Gaben, und
obgleich er zn den hervorragenden Personen der Grafschaft
„Ich bin sehr, sehr unglücklich!"