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174

„Lek 6r, mein freund, dies Kraut sick an,
Machst nickt in allen Landen,
list gekeissen Kükrmichnichtsn,
I)at 6r milk reckt verstanden?"
Kiso sprach er mit ernstem Lion,
I)ob den finger und ging davon.
Sonnenschein rings auf den Luschen lag
lind auf zwei goldenen Töpfchen. --
Ob es veoki sticht? Ob es brennen mag?
Schüttelt die Kleine ikr Köpfchen.
Kls ich es endlich berükrte bang.
Kükrmichnichtsn mir entgegen sprang.

Johann Jürgens Brautwerber.
Von
Ludwig Annshagen.
^^ohann Jürgens ging ans Freiersfüßen heim vom
Begräbnis seiner Frau. Er setzte den Handstock
fest in den Kiesweg, wie er zwischen den andern
Gutstaglöhnern vom Kirchhof zurückwanderte und
stolperte doch ein paarmal über seine eignen Beine.
Sein Gesicht war übernächtig blaß und zugleich rot-
fleckig wie von vorgängigem Wachen und gegenwärtigem
erstickten Weinen.
Es waren auch leidige Tröster, die in ihren lang-
schößigen Abendmahlsröcken mit ihm pilgerten. Sie
hatten das Tote nun weggebracht und wohlverwahrt,
das forderte keine Sorge mehr; Sorge fordert was
lebt, atmet und essen will, und — das waren in
Jürgens' Hause sechs kleine Jungen, deren ältester
schon mit der Fibel hantierte, deren letzter sich vor
drei Monaten erst keck in die Welt gedrängt hatte,
wo niemand ihn brauchte. Er hatte sich am dritten
März eingestellt — genau am Geburtstage des vorigen
und des vorvorigen Bruders. Der witzige Rademacher
hatte kurz vorher Jürgens nnd seiner Frau geraten,
an diesem Tage einen Strohwiem in den Schornstein
zu stecken und auszugehen, aber sie schenkten ihm keinen
Glauben, und — der Storch sand seinen Weg. Der
neue Junge hatte sogleich gebieterisch eine große Menge
Forderungen gestellt, obwohl seine Rechtsstützen nnd
Gegenleistungen nur schwach waren. Er hatte nrcht
einmal Erlaß gegeben in den letzten Nächten, wo seine
Mutter ruhelos im Bett gestöhnt — die doch aus
Vertrag und Leistungen viel eher ein Recht auf Be-
rücksichtigung ableiten gekonnt —, und zeigte sich auch
jetzt keineswegs gewillt, sich den veränderten Umständen
anzupassen.
Einer der Männer bückte sich über den Graben-
rand und Pflückte eine wilde Blume.
„Hier wass't dat Krüzkrut," sagte er und gab sie
Jürgens, „dat legg dinen Lütten uuner 't Koppkissen,
denn slöppt hei beter, un du kriegst din Rauh."
„Un denn red' mit de Bartelsdochter — wo ihrer wo
leiwer — du kannst nich anners," sagte ein andrer.
„Ick kann nich anners —"
„Sei is in de vernünftigen Johren un kann wirt-
schaften," sagte der Rademacher. „Dat möt sin —"
„Dat möt sin," murmelte der Witwer und lief
gegen einen Prellstein.
„Sei hett ehren Kuffert vull. Wenn s' ok nich
orndlich hören kann — wat kann 'n Wittmann mit
sös Kinner verlangen?"
Jürgens that den Mund auf, als wenn er rufen
wollte, daß er gar nichts verlangte, aber er sagte:
„Ja — dat is dat einzigst."
Sie rechneten. Der Dispens vom Konsistorium
war in Fällen wie dieser gewiß. In sechs Wochen
konnte Rike Bartels schon zwei Tage lang Essen ge-
kocht und die Kinder und das Vieh besorgt haben.
Dann kriegte Jürgens auch wieder sein Recht und
wurde der Kerl, der er gewesen.
Vor seiner Hcmsthür blieben sie stehen. Er wollte
sie ehrenhalber hineinnötigen, aber sie sagten: „Ditmal
nich" — und gingen, und er sah ihnen unbewußt nach,
bis ein schwarzer Rock um den andern in den Thüren
verschwand. Ihm graute, sein Haus zu betreten.
Daun aber kamen drei bis vier kleine Jungen um das
Haus geschwärmt und zogen ihn an Rock und Händen
hinein, denn sie wollten ihre Festsemmel.
Da roch es nach Sargfirnis, und obwohl Bank,
Tisch, Schrank und Koffer standen wie immer — und
sogar noch Brettstühle unordentlich mitten in der
Stube — war es so leer drinnen, daß ihn ein Schwindel
faßte und er über den vordersten Stuhl auf den andern
fiel. „Hadda," sagte der Dreijährige, „Hadda sollen
is," und guckte. Der Zweijährige hatte ebeu kriechend
die Schwellen passiert und richtete sich au der Wiege
auf. Die geriet in Bewegung, nnd eine Stimme erhob
sich darin — zuerst verdrießlich, dann begehrlich und
herrisch. Jürgens verharrte noch zusammengesunken
auf seinem Stuhl, aber der Dreijährige warf sich zum
Anwalt des Letzten auf. Patschte den Vater aufs Knie
und mahnte:
„Hadda — Heining rohrt."

Illustrierte Welt.

Das war das Stichwort. Jürgens trat an die
Wiege. Daraus eiferte ihn ein zornrotes Gesichtchen
an, schalt über Ruhestörung und beklagte sich über
erlittene Versäumnis und Einsamkeit. Ganz mit Un-
recht — denn seine Flasche lag noch halbgefüllt und -
warm bei ihm im Kissen, und der Fibelleser be-
richtete, Rike Bartels wäre dagewcsen, hätte Heine die
Flasche, den andern Kaffee gemacht und den Fünften
mitgenommen, um ihn bei sich zu warten. Den Letzten
aber beschämte das nicht, er zeterte fort, bis er wirk-
liche Thränen hervorgebracht hatte —, und der Vater
versuchte gar nicht erst, ihm begreiflich zu machen,
daß der Mutter Begräbnis gar ein Anlaß sein möchte,
als Sohn sich für einige Stunden einzuschrünken. Er
schüttelte nur begütigend das Kissen ein wenig, was
aber der Letzte mit strenger Miene ablehnte.
Jürgens ging schleppend zur Küche und nahm aus
einer Schale eine Semmel für jeden Jungen. Die drei
ältesten trappelten wieder hinaus, der Zweijährige
kroch ihnen nach, seinen benagten Leckerbissen manchmal
im Stubensand umkehrend. Und dann befahl der Letzte
den Vater kreischend wieder zu sich. Er war noch nicht
zu Ende mit seiner Beschwerdeführung und stellte für
die Zukunft seine Bedingungen. Am Boden lag das
verstreute Kreuzkraut; Jürgens nahm die Stengel auf
nnd legte sie dem Zornigen unters Kopfkissen:
„Sch — sch — wat willst du denn? Wat fall ick
noch?"
Er lehnte sich an den Schrank, sah m das un-
zufriedene Gesicht und hörte brütend auf das an-
maßende Geschrei. Ein Wunder war es nicht, daß
der Knirps sich ein großer Herr zu sein dünkte —
welche Erfolge hatte sein dreimonatiges Leben schon
aufzuweisen! Er kam, der ganz überflüssig war —
und um seinetwillen mußte die Mutter gehen —
die Frau — alles! Er trumpfte auf voni ersten
Tage an und trotzte auf seine eingebildeten Rechte,
fand nichts wichtig, als sich —, gönnte der kranken,
der sterbenden Mutter weder Pflege noch Ruhe. Selbst
in der Stunde ihres Hinscheidens trieb er unnachsichtig
seine Forderungen ein, riß Jürgens von den Knieen
auf und zwang ihn zu den schuldigen Leistungen. Er
sah mit vollkommener Gleichgültigkeit auf die Leiche
seiner Mutter, als Jürgens ihn heranhielt, daß er
noch einmal mit seiner Hand die erstarrte Wange
streichle —, fast eine Bitterkeit gegen Heine stieg
Jürgens darüber aus.
Es war ein ganz niederes, unwertes Geschöpf, das
sich so verhalten konnte, geringer als ein Hündchen,
das man ersäuft; das fühlt es, wenn die Blutter tot
ist! Dem Letzten war es gleich, wenn ihn nur irgend
jemand sonst gut bediente. Heute nacht hatte er den
endlich eingeschlummerten Vater in Bewegung gesetzt
— dagegen vor zwei Stunden, als alle weinten und
sangen und selbst die fünf Aeltesten über das seltsame
Gebaren der Leute in Thränen ausbrachen —, da
hatte er mit seinem Bettzipfel gespielt und munter
aus den Kissen geäugt.
Und er hielt an mit Forderungen. Er verlangte
unwidersprechlich, daß Jürgens morgen zu der halb-
tauben Rike Bartels ging — mit der die Kinder ihren
heimlichen Spott trieben, weil sie nicht gut hörte, sich
niemals wehrte und das Ihre an sie wegschenkte —,
und sie bat, als Frau und Mutter einzuzieheu. Also
sorderte der häßliche Kahlkopf mit seinem wüsten Ge-
schrei, daß Jürgens binnen sechs Wochen alles, was
seine Lene ihm in acht Jahren gewesen — gegeben
und angethan, wovon sie Leidens-, Glücks- nnd Sorgen-
spuren im Gesicht bekommen —, wegstaute, um der
chalbklugen Rike srische Bahn zu machen.
„Ick kann't nich — ick kann't nich!" jammerte er
plötzlich auf.
Da hob der Letzte beide geballten Fäustchen aus
den Kissen, drehte den hochroten Kopf nach ihm, gab
sich einen Ruck, um hochzuschnellen, was ihm aber nicht
gelang, und stieß ein Wutqeschrei aus, bei dem die
Wiege zitterte.
Ein plötzlicher Grimm schoß in Jürgens auf. Er
faßte in die Kissen nnd schüttelte sie so heftig, daß
der Letzte mit einem krampfhaften Aufschlucksen ver-
stummte und ihn starr ansah.
„Täuw du — täuw! Racker du! Heft du tau
befehlen?" Tann redete er ihm aber wieder gütlich zu,
schaukelte ihn sanft und sann auf ein Schlummerlied.
Aber nichts fiel ihm ein, als was heute hier gesungen
worden:
„Nun lasset uns den Leib begraben —
Daran wir keinen Zweifel haben —"
So gröhlte sich der Letzte mühselig selbst wieder in
Schlaf und gestattete damit, daß der Vater sein Arbeits-
zeug anzog, die Stube fegte und um die Hausecke ging
zum Holzkleinmachen. „Hadda," stammelte ihm der
Zweijährige entgegen, der am Haublock staud und mit
Spänchen spielte, „Hadda — Körling taukieken."
Am Abend kam Rike Bartels über die Straße und
brachte den Vorletzten zurück. Sie zog ihn gleich aus
und legte ihn zu Bett und dann — weil sie doch ein-
mal da war — der Reihe nach alle. Zwei kamen in

jedes Bett —, inimer die Füße des einen beim Kops
des andern. Das waren sie Wohl nicht gewohnt, denn
bald schrie der Dreijährige auf, der Zweijährige beiße
ihn iu die große Zehe. Nun legte sie sie mit den
Köpfen zusammen.
Und dann herrschte der Letzte sie an nm Flasche,
trockene Tücher, gelockerte Kissen und fleißiges Schaukeln
— ohne Rücksicht darauf, daß s i e schon keinerlei Ver-
pflichtung gegen ihn hatte. Tie Anknüpfung wäre
jetzt für Jürgens leicht gewesen —, aber am Begräbnis-
tage konnte er es nicht sagen!
Am nächsten Abend ging er zu Rike hinüber; die
Leute brauchten es nicht zu sehen. Sie saß mit ihrer
ganz tauben Mutter und flickte eine Hose — Jürgens
erkannte die seines Vierjährigen. Er sagte ihr laut
und ohne Umschweife seinen Antrag vor den Kopf nnd
zurück — schallte ein Nein!
„Denn — wo bliwwt nun Mudder?"
Bi M —"
„As Steifmudders Mudder — wo? Nee!"
Und: „Nu is jeder Gröschen miu, den' ick verdeihn
un ick kann weggewen un dauhn, as ick will — denn
hürt mi nix —"
„Hürt dl allens —"
„Hürt un nix!"
Er,stand verblüfft. Daß es so kommen konnte,
hatte er nicht gedacht.
Aber Rike trat doch auf sechs Wochen drüben ein
als Not- und Hilssmutter — soweit ihr Tag reichte,
und fand dort auch sechs hervorragend geeignete Ziel-
punkte für ihre Schenkgelüste.
Nach Verlauf dieser Zeit wanderte Jürgens ins
Kirchdorf zur Trauung —, er brachte auch eine Braut
mit. Er hatte den schwarzen Abendmahlsrock au und
stapfte an seinen! Handstock zehn Schritte voraus als
ihr künftiger Führer und Wegweiser. Ihrer Treue
gewiß, sah er sich nur selten nach ihr um, ob sie noch
folgte. Sie hatte ein schwarzes Kleid an und ein
großes Tuch dreizipflig umgenommeu. Beide Hände
hielt sie um Gesangbuch, Taschentuch und Sträußchen
geschlungen, wodurch sie einen etwas wackelnden Gang
bekam; — aber es sah sie ja niemand.
Es war Rike Bartels.
Sie hatte — obwohl sie nicht scharf hörte — ein
Ohr bekommen für den Despoten in der Wiege, und
der drang unerbittlich auf buchstäbliche Erfüllung
seiner Forderungen. Auch der Fünfte stimmte ihm
gellend bei, wenn Rike nach vollbrachtem Werk nach
Hause wollte. Schließlich stemmten sich drei von außen
gegen die Thür, um sie gefangen zu halten, und der
Zweijährige hielt sie mit Hilferufen nach „Hadda" an
Schürze nnd Rock fest. Dazu hob der Letzte aus der
Wiege drohend seine geballten Fäuste.
Nun saßen sie alle festtäglich schweigsam an dem
Kaffeetisch, den die ganz taube Mutter Nikes bestellt,
heischten und verteilten Semmel und tranken aus den
Untertassen. Johann Jürgens sah mit einem Gemisch
von Dank und bewundernder Scheu Heines kahlen
Schädel aus deu Kissen leuchten, der eine Fülle von
Unerforschlichcm bedeckte —, des Letzten, der mit
sicherem Blick das Richtige erkannt und das Erkannte
dann mit allen Mitteln durchgesetzt hatte.

Meue Wucher und Schriften.
Krauß, Fr., Die Eiszeit und die Theorien über die Ursachen derselben. Ver-
lag von Otto Maier in Ravensburg. Preis 3.— . — Die zahlreichen
Trümmergesteine, die im Norden Deutschlands, namentlich aber auch im
südlichen Deutschland längs der Vorländer der Alpenkette zerstreut sind,
sind Zeugen einer der einschneidendsten Perioden im Leben unsrer Erde
und bildeten lange Zeit vielumstrittene Probleme für die wissenschaftliche
Welt. Heute sind wir im klaren, wie diese großen Felsblöcke oder die
unglaublich großen Massen von Geröll und schult in diese Gegenden
gekommen sind. Wir wißen, daß sie auf dem Rücken von Gletschern
von„-fe.rnen Hochgebirgen herab an ihre jetzige Lagerstätte getragen wur-
den. Ueber diese Vereisungen, die auf eine paradiesische Wärmeperiode,
die sogenannte ^ertiärperiode, gefolgt sind, bringt das Buch von Krauß
interessante Ausführungen, die nicht nur den Forscher, sondern auch jeden ge-
bildeten Laien, der Verständnis und Freude an der Natur und ihren gewal-
tigen Erscheinungen und Vorgängen hat, außerordentlich fesseln werden.
Muret - Sanders „Wörterbuch der englischen und deutschen Sprache". Hand-
und Schulausgabe. Beide Teile in einem eleganten Halbfranzbande
14.— . 1734 Seiten gr. Lexikon-Format. (Berlin, Langenscheidtsche
Verlagsbuchhandlung.) — Das große Wörterbuch der englischen und
deutschen Sprache von Muret-Sanders ist von der sachkundigen Kritik
einstimmig als das weit us beste aus diesem Gebiet und schlechthin als
eine immense Leistung deutschen Fleißes und Geschickes anerkannt. Bei
eignem Gebrauch ist uns seine nie versagende Auskunst unentbehrlich ge-
worden. Die Vorzüge der Großen Ausgabe find dieser Hand- und
Schulausgabe nach Möglichkeit erhalten worden. Ganz nach dem Plane
des großen Wörterbuches bearbeitet, berücksichtigt vorliegendes Buch zwar
zunächst die Bedürfnisse der Schule, indessen auch — soweit möglich —
das praktische Leben, da das dem Schüler lieb gewordene Schulwörterbuch
von ihm in der Regel auch später mit Vorliebe benutzt wird. Muret-
Sanders ist das einzige Wörterbuch der englischen und deutschen Sprache,
das bei jedem Wort (Titelkopf) angiebt: 1. Aussprache; 2. Groß- oder
Kleinschreibung; 3. Konjugation oder Deklination; 4. Etymologie. —
Dieselbe Anerkennung gebührt dem Parallelwerk Sachs-Villatte, „Ency-
klopädisches Wörterbuch der französischen und deutschen Sprache. Hand-
und Schulausgabe. Neubearbeitung 1900. 125?—-134. Tausend. (Berlin.
Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung.) 856 und 1160 Seiten, beide
Teile in einem Halbfranzbande 15.—. — Sachs und Villatie haben
durch ein genial ausgedachtes System von Abkürzungen und Zeichen das
sonst so unangenehme Turchlesen langer Artikel im Wörterbuch zu einem
Vergnügen gemacht. Von andern Vorzügen seien nur genannt: Angabe
der Konjugation bei jedem Verbum; Angabe der Rektion der Verba und
AdjeMva; klare Veranschaulichung der Groß- und Kleinschreibung der
Wörter; stete Belehrung über den Gebrauch des Bindestrichs in Zu-
sammensetzungen; kurze encyklopädische Sacherklärung, wo solche zum Ver-
ständnis des Wortes oder zur Kennzeichnung eines Namens wünschenswert
erscheint; Angabe der Betonung sowohl in den lateinischen Namen der
Tiere, Pflanzen und so weiter, als auch im Deutschen, insbesondere auch
bei Fremdnamen.
 
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