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Illustrierte M e l t.
nach dem Süden die Rede. Daß Frau von Gilsa ihrer
Erwähnung gethan hatte, erklärte sich vielleicht aus
dem gerade heute ausfallend schlechten Aussehen und
der bedrückten Schweigsamkeit ihres Sohnes. Aber sie
bereute die Frage wahrscheinlich sofort, denn sie konnte
nicht darüber im Zweifel sein, daß sie damit trotz
ihres liebevollen Tones hart in eine schmerzende
Wunde gegriffen hatte. Um Herberts Mundwinkel
zitterte es, und die Schatten auf feinem Antlitz wurden
noch tiefer.
„Ja. liebe Mutter, ich werde reisen," sagte er,
„und falls es dir so erwünscht ist, schon morgen oder
noch heute. Aber wenn du Nachsicht mit mir haben
willst, so laß mir Zeit — nur ein paar Tage! Und
verlange nicht, daß ich dir einen Grund dafür angebe;
denn — denn ich wüßte nicht, ihn dir zu nennen!"
Zärtlich und gleichsam um Verzeihung bittend, legte
Frau von Gilsa die Hand auf die seine.
„Du weißt, mein lieber Sohn, daß du nach meinem
Willen nur das thun sollst, was dir selbst erwünscht
und angenehm ist. Wir werden also von deiner Ab-
reise erst wieder reden, wenn dir der rechte Zeitpunkt
dazu gekommen scheint."
Ehrerbietig und dankbar führte er ihre Hand an
seine Lippen; aber er erwiderte nichts, und seine
Schweigsamkeit lag bedrückend wie zuvor auf der kleinen
Tafelrunde. Da trat eines der Mädchen in das Speise-
zimmer und überreichte Herrn von Gilsa ein eben ein-
gelaufenes Telegramm. Herbert erbrach es unter dem
besorgt auf ihn gerichteten Blick der Mutter, und seine
Augen öffneten sich weit, während er las. Er über-
hörte die Frage nach dem Inhalt der Depesche, die
Frau von Gilsa an ihn richtete, aber nachdem er ein
paar Sekunden lang wie in völliger Erstarrung da-
gesessen, kam ein Schluchzen aus seiner Kehle, seine
Schultern bebten, und es war ein so unsäglich schmerz-
licher Ausdruck auf seinem Gesicht, daß Jenny bestürzt
vor sich hin auf den Teller blickte, während Margarete
weiß wurde wie das Damasttuch auf dem Tisch.
„Herbert — um Gottes willen, was ist's — was
steht in diesem Telegramm?" rief die alte Dame, die
Anwesenheit der beiden Fremden völlig vergessend, in
höchster Angst. Der Maler aber fuhr mit einem kurzen,
schneidenden Auflachen, das unheimlich klang wie das
Lachen eines Wahnsinnigen, von seinem Stuhl empor
und schleuderte das Blatt auf den Tisch.
„Lies selbst, Mutter! Aber nicht früher, als bis
ich draußen bin. Und wenn du mich lieb hast, so
folge mir nicht. Laß mich nur jetzt — nur jetzt allein
mit meiner Freude über dies große, unerwartete Glück!"
Er stürzte hinaus, und es machte in der That nie-
mand einen Versuch, ihm zu folgen. Frau von Gilsa
griff mit zitternder Hand nach dem Telegramm, aber
ihr von Thränen verschleierter Blick suchte umsonst, die
Buchstaben zu Worten zusammenzusügen. Bittend
reichte sie Margarete das Papier.
„Lesen Sie es mir vor, liebe Frau Aldenhoven —
denn mir flimmert es vor den Augen."
Margarete las. Die in französischer Sprache ab-
gefaßte Depesche enthielt die Mitteilung, daß dem von
Gilsa ausgestellten Gemälde „Maria und Magdalena"
von der Jury des Pariser „Salon" eine goldene Me-
daille zuerkannt worden sei, und einen sehr herzlichen
Glückwunsch zu dieser wohlverdienten großen Aus-
zeichnung.
„O mein Gott!" klagte die Matrone mit gefalteten
Händen. „Welch ein Freudentag hätte dies für uns
sein können! Und wie grausam muß die Nachricht
nun sein armes Herz zerreißen! Seine erste Medaille
und seine letzte! Der Himmel des Ruhmes ist vor ihm
aufgethan, und die Schwingen sind gebrochen, die ihn
hineintragen könnten. Und das alles, alles um ein
Nichts!"
Sie verhüllte ihre überströmenden Augen. Jenny
aber, die von ihrem Stuhl aufgesprungen und neben
ihr auf den Boden hingekniet war, bat mit den er-
greifenden Tönen eines herzinnigen Mitleids:
„Weinen Sie nicht, liebe, verehrte Frau von Gilsa
— o, ich beschwöre Sie, weinen Sie nicht! Es wird
den Kummer Ihres Sohnes ja nur vergrößern, wenn
er auch Sie so traurig sieht!"
Halb unbewußt hatte ihre tröstende Hand die rechte
Saite in dem gequälten Mutterherzen erklingen lassen.
Die alte Dame neigte sich zu ihr herab und küßte sie
auf die Stirn.
„Ich danke Ihnen, mein Kind, daß Sie mich daran
erinnert haben. Ja, Sie haben recht. Er soll mich
tapfer und standhaft sehen, stark genug, ihm eine Stütze
zu gewähren, wenn die Verzweiflung ihn ganz nieder-
drücken will!"
Auf die Schulter der Knieenden gestützt, da ein
altes Leiden sic namentlich in Augenblicken der Er-
regung in ihrer Bewegungsfreiheit zu hindern Pflegte,
richtete sie sich auf und nahm dann den Arm des
behende auf die Füße gesprungenen jungen Mädchens.
„Wollen Sie mich in mein Zimmer begleiten, liebe
Jenny, und mir dort ein wenig Gesellschaft leisten?
Ihre Frau Schwester hat wohl die Güte, mich während
der nächsten Stunden in meinen Hausfrauenpflichten
zu vertreten."
Natürlich erhob keine der beiden Schwestern einen
Widerspruch gegen die Erfüllung dieser Wünsche, und
gleich darauf sah sich Margarete allein. Sie hatte
bis dahin ihre gewöhnliche ruhige Haltung bewahrt,
und nur die tiefe Blässe ihres Gesichts hatte erraten
lassen, daß auch sie in innerster Seele erschüttert sei.
Nun aber, nachdem auf ihren Wink auch der auf-
wartende Diener das Gemach verlassen hatte, ließ sie
den Kopf auf die am Tischrand gekreuzten Arme sinken,
und kein vernehmbarer Laut zwar, doch das zeitweilige
Erschauern ihres schönen Körpers verriet, daß sie
weinte.
So sah sie Herbert von Gilsa, als er eine Viertel-
stunde später in der Thür des Speisezimmers erschien,
von dem Wunsche, seine Mutter zu beruhigen, hierher
zurückgeführt. Er blieb bei dem unerwarteten Anblick
betroffen stehen und schien unentschlossen, ob er vollends
eintreten oder sich leise wieder zurückziehen solle. Aber
nach kurzem Zaudern hatte er sich entschieden zu bleiben,
und mit demselben warmen, herzlichen Klange, der seiner
Stimme eigen zu sein pflegtej wenn er zu seiner Mutter
sprach, fragte er:
„Sie sind traurig, Frau Aldenhoven — ist Ihnen
etwas Schmerzliches widerfahren? Oder — oder weinten
Sie etwa gar um mich?"
Diese letzte Vermutung war ihm erst gekommen,
als Margarete auf feine Anrede hin den Kopf erhoben
hatte, und als er in ihren Zügen die Verwirrung ge-
lesen, in die seine unvorhergesehene Rückkehr sie ver-
setzte. Er fühlte sich zugleich gerührt und beschämt
durch ihre Verlegenheit, die zur Verräterin dessen
wurde, was sie bewegt hatte, und mit einer Vertrau-
lichkeit, wie sie bisher noch niemals in ihrem Verkehr
gewesen war, bot er ihr seine gesunde linke Hand.
„Wenn es so war, so lassen Sie mich Ihnen von
ganzem Herzen danken! Aber lassen Sie mich auch
hoffen, daß mein voriges Benehmen mich nicht gar zu
tief in Ihrer Achtung herabgesetzt hat — daß Sie
mich nicht üm dieses Mangels an Selbstbeherrschung
willen für einen jämmerlichen Schwächling halten."
Margarete hatte ihre Hand in die seine gelegt, doch
nur, um sie sogleich wieder zurückzuziehen. Das flüch-
tige Rot der Verlegenheit war bereits von ihren
Wangen verschwunden, und sie hatte die Sicherheit
ihrer Haltung vollständig zurückgewonnen.
„Nein, nicht für einen Schwächling, Herr von Gilsa,
aber —"
Sie stockte, als sei ihr nun doch der Mut entfallen,
das, was sie beabsichtigt hatte, zu sagen. Herbert aber
drängte ungestüm:
„Nun, warum vollenden Sie nicht? Es kann mir
doch sicherlich nur von Nutzen sein, zu erfahren, wofür
Sie mich halten."
„Ich glaube allerdings, daß Sie sich zu rasch be-
siegt geben — daß Sie den Kampf gegen das Schicksal
tapfer aufnehmen sollten, statt sich vor ihm wie vor
etwas Unüberwindlichem zu beugen."
Er war auf solche Worte aus dem Munde dieser
Fremden sicherlich nicht gefaßt gewesen, und er bemühte
sich kaum, ihr seine Ueberraschung zu verbergen.
„Also zeihen Sie mich dennoch der Feigheit! Und
mit welchen Waffen sollte ich Ihrer Meinung nach
diesen Kampf gegen das Schicksal führen?"
„Mit den Waffen der Beharrlichkeit und der eisernen
Willenskraft, der nichts unerreichbar scheinen darf, was
andern je gelang — ja, nicht einmal das, was vorher
vielleicht noch keinem gelungen ist."
„Ein stolzes Wort, Frau Aldenhoven — und ein
Wort, nach dem ich gern genug handeln möchte. Aber
mir scheint, daß ein Verhängnis wie das meinige auch
durch die heldenmütigste Tapferkeit und die besten Vor-
sätze nicht zu ändern ist. Oder halten Sie es für
möglich, daß jemand durch die Kraft seines Willens aus
einem Krüppel wieder zum gesunden Menschen werde?"
„Wenn Sie dabei von sich selbst sprechen, Herr
von Gilsa — ja!"
„Dann müßte ich allerdings eine nähere Erklärung
erbitten, um Sie zu verstehen. Mein Arm wird nach
dem übereinstimmenden Urteil der tüchtigsten Aerzte
für immer unbrauchbar bleiben zu der Kunstübung,
auf die ich nun einmal mein Leben gestellt habe. Ten
zerrissenen Sehnen aber giebt keine Tapferkeit und
keine Willenskraft ihre alte Arbeitsfähigkeit zurück."
„Nein. Aber haben Sie denn nicht noch einen
zweiten, gesunden Arm?" ,
Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ah, ist es das, was Sie meinen? Nun verstehe
ich allerdings. Aber um das Unmögliche zu versuchen,
fühle ich mich allerdings nicht mehr mutig und hoff-
nungsvoll genug."
„Mut und Hoffnung werden sich einstellen, sobald
Sie eben aufhören, es für unmöglich zu halten. Darf
ich Ihnen ein Beispiel aus meiner eignen Erfahrung
erzählen? Das kleine Mädchen, mit dessen Erziehung
ich bis jetzt — bis vor kurzem betraut war, hatte die
augenscheinlich angeborene Eigentümlichkeit, alles mit
der linken Hand zu verrichten, und zwar in geradezu
staunenswerter Geschicklichkeit, während es in der un-
beholfenen Rechten kaum einen Löffel 'zu halten ver-
mochte. Allen Versuchen der Eltern und der Bonne,
es zu fleißiger Uebung der von der Natur vernach-
lässigten Hand zu bewegen, hatte es entweder ein
entschiedenes ,Jch will nicht!' oder bei strengem Befehl
Bitten und Thränen entgegengesetzt. Mir aber gelang
es durch Geduld und freundliche Vorstellungen, diesen
Widerstand zn besiegen, und schon nach wenigen
Monaten war in der Gewandtheit beider Hände kaum
noch ein Unterschied wahrzunehmen."
„Ein Ergebnis, das gewiß Ihrer Erziehungskunst
Ehre macht. Aber es war eben ein Kind!"
„Und was der Beharrlichkeit eines Kindes mög-
lich ist, das sollte ein Mann nicht vollbringen können
— ein Mann, der um das Glück seines Lebens kämpft,
dem als Lohn seiner Ausdauer das Höchste und Beste
winkt, was einem Menschen überhaupt auf Erden zu
teil werden kann? Nur wenn das Schicksal Sie Ihres
Augenlichts oder Ihrer beiden Hände beraubt hätte,
dürften Sie als ein Besiegter die Waffen strecken.
Wenn Sie es jetzt thun, so . . ."
„So sind Sie ein Feigling. Sprechen Sie es
immerhin aus, da ich ja nun weiß, daß Sie es denken
— und da — soll ich ehrlich gestehen? — da es mir
selbst fast so scheinen will. Seltsam! Alles das, was
Sie mir soeben sagten, habe ich auch aus dem Munde
der Aerzte gehört, die mir mit einem großen Aufwand
von Wissenschaftlichkeit nachwiesen, daß es durchaus
nicht zu den unmöglichen Dingen gehöre, mit der
linken Hand zu malen wie mit der rechten, zumal
wenn man, wie ich, in dieser recht gut die Palette
halten könne. Aber ich habe es immer nur für einen
gut gemeinten Tröstungsversuch genommen und bin
nicht einen Augenblick in Versuchung gewesen, daran
zu glauben. Und jetzt — jetzt ist mir's mit einemmal,
als müßte es sich wirklich erreichen lassen, als bedürfe
es in der That nur einiger Beharrlichkeit, um dahin
zu gelangen."
„O, halten Sie fest an dieser Hoffnung, Herr
von Gilsa!" ries Margarete, und wie Helle Freude
leuchtete es aus ihren schönen Augen. „Lassen Sie
sich durch keinen neuen Zweifel beirren und auf halbem
Wege ermüden!"
„Auf halbem Wege!" Er seufzte auf. „Ach, wie
lang wird dieser Weg sein, und wieviel Zeit wird
vergehen, ehe ich ihn auch nur zur Hälfte zurückgelegt
habe! Da — sehen Sie her! Erraten Sie, was das
bedeutet?"
Er hatte einen Crayon aus der Tasche gezogen und
mit der linken Hand auf die Rückseite des Telegramms,
das ihm seine Prämiierung meldete, etwas gezeichnet.
Margarete warf einen Blick auf die krausen Linien
und sagte ruhig:
„Gewiß, es ist eine Rose."
„Und sie sieht ganz so aus, als ob ein bedeutender
Künstler sie entworfen hätte — nicht wahr?"
„Nein, sie sieht aus wie die Zeichnung eines talent-
vollen Kindes, das schon das Auge des Künstlers hat,
dem aber noch das meiste und beste verloren geht auf
dem Wege vom Auge in die ungelenke Hand."
Bewundernd halb und halb betroffen blickte Herbert
in das frei und unbefangen ihm zugewandte Frauen-
antlitz, dessen wunderbar beseelte Schönheit ihm viel-
leicht nie zuvor in gleichem Maße zum Bewußtsein
gekommen war.
„Woher nehmen Sie diese wunderwirkende Kraft
der Ueberzeugung?" fragte er. „Erklären Sie mir das
Rätsel, daß ich Ihnen fast wider meinen Willen glauben
muß, was ich sonst keinem Menschen auf Erden ge-
glaubt hätte?"
„Die Erklärung dieses Rätsels liegt Wohl einzig
in Ihrer augenblicklichen Stimmung, Herr von Gilsa!
Wollen Sie mir erlauben, das Blatt mit der Zeichnung
zu behalten?"
„Zu welchem Zweck?"
„Lassen Sie das, bitte, vorläufig mein Geheimnis
sein! Ihre augenblickliche Stimmung aber möchte ich
benutzen, um Ihnen ein Versprechen abzugewinnen —
das Versprechen, daß Sie ernstlich und ausdauernd
versuchen werden, dem Rate Ihrer Aerzte zu folgen."
„Nicht meiner Aerzte, sondern Ihrem Rate, Frau
Margarete!" Er nannte sie zum erstenmal so, wie
seine Mutter sie zu nennen pflegte. „Ja, ich verspreche
es, aber nur unter einer zweifachen Bedingung."
„Unter einer Bedingung, die ich zu erfüllen hätte,
Herr von Gilsa?"
„Ja — Sie! Zum ersten darf niemand etwas
von diesen Versuchen erfahren. Führen sie zu einem
Erfolg, so wird es immer noch früh genug sein, meine
arme Mutter, der ich schon so viel Herzeleid angethan,
mit der Freudenkunde zu überraschen. Enden sie aber
mit einer Enttäuschung, so will ich den Schmerz der
zerstörten Hoffnung allein tragen und nicht auch ihn
noch dem Kummer der edelsten aller Frauen hinzu-
gefügt sehen. Sie verstehen und würdigen diese Gründe
! — nicht wahr?"
Illustrierte M e l t.
nach dem Süden die Rede. Daß Frau von Gilsa ihrer
Erwähnung gethan hatte, erklärte sich vielleicht aus
dem gerade heute ausfallend schlechten Aussehen und
der bedrückten Schweigsamkeit ihres Sohnes. Aber sie
bereute die Frage wahrscheinlich sofort, denn sie konnte
nicht darüber im Zweifel sein, daß sie damit trotz
ihres liebevollen Tones hart in eine schmerzende
Wunde gegriffen hatte. Um Herberts Mundwinkel
zitterte es, und die Schatten auf feinem Antlitz wurden
noch tiefer.
„Ja. liebe Mutter, ich werde reisen," sagte er,
„und falls es dir so erwünscht ist, schon morgen oder
noch heute. Aber wenn du Nachsicht mit mir haben
willst, so laß mir Zeit — nur ein paar Tage! Und
verlange nicht, daß ich dir einen Grund dafür angebe;
denn — denn ich wüßte nicht, ihn dir zu nennen!"
Zärtlich und gleichsam um Verzeihung bittend, legte
Frau von Gilsa die Hand auf die seine.
„Du weißt, mein lieber Sohn, daß du nach meinem
Willen nur das thun sollst, was dir selbst erwünscht
und angenehm ist. Wir werden also von deiner Ab-
reise erst wieder reden, wenn dir der rechte Zeitpunkt
dazu gekommen scheint."
Ehrerbietig und dankbar führte er ihre Hand an
seine Lippen; aber er erwiderte nichts, und seine
Schweigsamkeit lag bedrückend wie zuvor auf der kleinen
Tafelrunde. Da trat eines der Mädchen in das Speise-
zimmer und überreichte Herrn von Gilsa ein eben ein-
gelaufenes Telegramm. Herbert erbrach es unter dem
besorgt auf ihn gerichteten Blick der Mutter, und seine
Augen öffneten sich weit, während er las. Er über-
hörte die Frage nach dem Inhalt der Depesche, die
Frau von Gilsa an ihn richtete, aber nachdem er ein
paar Sekunden lang wie in völliger Erstarrung da-
gesessen, kam ein Schluchzen aus seiner Kehle, seine
Schultern bebten, und es war ein so unsäglich schmerz-
licher Ausdruck auf seinem Gesicht, daß Jenny bestürzt
vor sich hin auf den Teller blickte, während Margarete
weiß wurde wie das Damasttuch auf dem Tisch.
„Herbert — um Gottes willen, was ist's — was
steht in diesem Telegramm?" rief die alte Dame, die
Anwesenheit der beiden Fremden völlig vergessend, in
höchster Angst. Der Maler aber fuhr mit einem kurzen,
schneidenden Auflachen, das unheimlich klang wie das
Lachen eines Wahnsinnigen, von seinem Stuhl empor
und schleuderte das Blatt auf den Tisch.
„Lies selbst, Mutter! Aber nicht früher, als bis
ich draußen bin. Und wenn du mich lieb hast, so
folge mir nicht. Laß mich nur jetzt — nur jetzt allein
mit meiner Freude über dies große, unerwartete Glück!"
Er stürzte hinaus, und es machte in der That nie-
mand einen Versuch, ihm zu folgen. Frau von Gilsa
griff mit zitternder Hand nach dem Telegramm, aber
ihr von Thränen verschleierter Blick suchte umsonst, die
Buchstaben zu Worten zusammenzusügen. Bittend
reichte sie Margarete das Papier.
„Lesen Sie es mir vor, liebe Frau Aldenhoven —
denn mir flimmert es vor den Augen."
Margarete las. Die in französischer Sprache ab-
gefaßte Depesche enthielt die Mitteilung, daß dem von
Gilsa ausgestellten Gemälde „Maria und Magdalena"
von der Jury des Pariser „Salon" eine goldene Me-
daille zuerkannt worden sei, und einen sehr herzlichen
Glückwunsch zu dieser wohlverdienten großen Aus-
zeichnung.
„O mein Gott!" klagte die Matrone mit gefalteten
Händen. „Welch ein Freudentag hätte dies für uns
sein können! Und wie grausam muß die Nachricht
nun sein armes Herz zerreißen! Seine erste Medaille
und seine letzte! Der Himmel des Ruhmes ist vor ihm
aufgethan, und die Schwingen sind gebrochen, die ihn
hineintragen könnten. Und das alles, alles um ein
Nichts!"
Sie verhüllte ihre überströmenden Augen. Jenny
aber, die von ihrem Stuhl aufgesprungen und neben
ihr auf den Boden hingekniet war, bat mit den er-
greifenden Tönen eines herzinnigen Mitleids:
„Weinen Sie nicht, liebe, verehrte Frau von Gilsa
— o, ich beschwöre Sie, weinen Sie nicht! Es wird
den Kummer Ihres Sohnes ja nur vergrößern, wenn
er auch Sie so traurig sieht!"
Halb unbewußt hatte ihre tröstende Hand die rechte
Saite in dem gequälten Mutterherzen erklingen lassen.
Die alte Dame neigte sich zu ihr herab und küßte sie
auf die Stirn.
„Ich danke Ihnen, mein Kind, daß Sie mich daran
erinnert haben. Ja, Sie haben recht. Er soll mich
tapfer und standhaft sehen, stark genug, ihm eine Stütze
zu gewähren, wenn die Verzweiflung ihn ganz nieder-
drücken will!"
Auf die Schulter der Knieenden gestützt, da ein
altes Leiden sic namentlich in Augenblicken der Er-
regung in ihrer Bewegungsfreiheit zu hindern Pflegte,
richtete sie sich auf und nahm dann den Arm des
behende auf die Füße gesprungenen jungen Mädchens.
„Wollen Sie mich in mein Zimmer begleiten, liebe
Jenny, und mir dort ein wenig Gesellschaft leisten?
Ihre Frau Schwester hat wohl die Güte, mich während
der nächsten Stunden in meinen Hausfrauenpflichten
zu vertreten."
Natürlich erhob keine der beiden Schwestern einen
Widerspruch gegen die Erfüllung dieser Wünsche, und
gleich darauf sah sich Margarete allein. Sie hatte
bis dahin ihre gewöhnliche ruhige Haltung bewahrt,
und nur die tiefe Blässe ihres Gesichts hatte erraten
lassen, daß auch sie in innerster Seele erschüttert sei.
Nun aber, nachdem auf ihren Wink auch der auf-
wartende Diener das Gemach verlassen hatte, ließ sie
den Kopf auf die am Tischrand gekreuzten Arme sinken,
und kein vernehmbarer Laut zwar, doch das zeitweilige
Erschauern ihres schönen Körpers verriet, daß sie
weinte.
So sah sie Herbert von Gilsa, als er eine Viertel-
stunde später in der Thür des Speisezimmers erschien,
von dem Wunsche, seine Mutter zu beruhigen, hierher
zurückgeführt. Er blieb bei dem unerwarteten Anblick
betroffen stehen und schien unentschlossen, ob er vollends
eintreten oder sich leise wieder zurückziehen solle. Aber
nach kurzem Zaudern hatte er sich entschieden zu bleiben,
und mit demselben warmen, herzlichen Klange, der seiner
Stimme eigen zu sein pflegtej wenn er zu seiner Mutter
sprach, fragte er:
„Sie sind traurig, Frau Aldenhoven — ist Ihnen
etwas Schmerzliches widerfahren? Oder — oder weinten
Sie etwa gar um mich?"
Diese letzte Vermutung war ihm erst gekommen,
als Margarete auf feine Anrede hin den Kopf erhoben
hatte, und als er in ihren Zügen die Verwirrung ge-
lesen, in die seine unvorhergesehene Rückkehr sie ver-
setzte. Er fühlte sich zugleich gerührt und beschämt
durch ihre Verlegenheit, die zur Verräterin dessen
wurde, was sie bewegt hatte, und mit einer Vertrau-
lichkeit, wie sie bisher noch niemals in ihrem Verkehr
gewesen war, bot er ihr seine gesunde linke Hand.
„Wenn es so war, so lassen Sie mich Ihnen von
ganzem Herzen danken! Aber lassen Sie mich auch
hoffen, daß mein voriges Benehmen mich nicht gar zu
tief in Ihrer Achtung herabgesetzt hat — daß Sie
mich nicht üm dieses Mangels an Selbstbeherrschung
willen für einen jämmerlichen Schwächling halten."
Margarete hatte ihre Hand in die seine gelegt, doch
nur, um sie sogleich wieder zurückzuziehen. Das flüch-
tige Rot der Verlegenheit war bereits von ihren
Wangen verschwunden, und sie hatte die Sicherheit
ihrer Haltung vollständig zurückgewonnen.
„Nein, nicht für einen Schwächling, Herr von Gilsa,
aber —"
Sie stockte, als sei ihr nun doch der Mut entfallen,
das, was sie beabsichtigt hatte, zu sagen. Herbert aber
drängte ungestüm:
„Nun, warum vollenden Sie nicht? Es kann mir
doch sicherlich nur von Nutzen sein, zu erfahren, wofür
Sie mich halten."
„Ich glaube allerdings, daß Sie sich zu rasch be-
siegt geben — daß Sie den Kampf gegen das Schicksal
tapfer aufnehmen sollten, statt sich vor ihm wie vor
etwas Unüberwindlichem zu beugen."
Er war auf solche Worte aus dem Munde dieser
Fremden sicherlich nicht gefaßt gewesen, und er bemühte
sich kaum, ihr seine Ueberraschung zu verbergen.
„Also zeihen Sie mich dennoch der Feigheit! Und
mit welchen Waffen sollte ich Ihrer Meinung nach
diesen Kampf gegen das Schicksal führen?"
„Mit den Waffen der Beharrlichkeit und der eisernen
Willenskraft, der nichts unerreichbar scheinen darf, was
andern je gelang — ja, nicht einmal das, was vorher
vielleicht noch keinem gelungen ist."
„Ein stolzes Wort, Frau Aldenhoven — und ein
Wort, nach dem ich gern genug handeln möchte. Aber
mir scheint, daß ein Verhängnis wie das meinige auch
durch die heldenmütigste Tapferkeit und die besten Vor-
sätze nicht zu ändern ist. Oder halten Sie es für
möglich, daß jemand durch die Kraft seines Willens aus
einem Krüppel wieder zum gesunden Menschen werde?"
„Wenn Sie dabei von sich selbst sprechen, Herr
von Gilsa — ja!"
„Dann müßte ich allerdings eine nähere Erklärung
erbitten, um Sie zu verstehen. Mein Arm wird nach
dem übereinstimmenden Urteil der tüchtigsten Aerzte
für immer unbrauchbar bleiben zu der Kunstübung,
auf die ich nun einmal mein Leben gestellt habe. Ten
zerrissenen Sehnen aber giebt keine Tapferkeit und
keine Willenskraft ihre alte Arbeitsfähigkeit zurück."
„Nein. Aber haben Sie denn nicht noch einen
zweiten, gesunden Arm?" ,
Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.
„Ah, ist es das, was Sie meinen? Nun verstehe
ich allerdings. Aber um das Unmögliche zu versuchen,
fühle ich mich allerdings nicht mehr mutig und hoff-
nungsvoll genug."
„Mut und Hoffnung werden sich einstellen, sobald
Sie eben aufhören, es für unmöglich zu halten. Darf
ich Ihnen ein Beispiel aus meiner eignen Erfahrung
erzählen? Das kleine Mädchen, mit dessen Erziehung
ich bis jetzt — bis vor kurzem betraut war, hatte die
augenscheinlich angeborene Eigentümlichkeit, alles mit
der linken Hand zu verrichten, und zwar in geradezu
staunenswerter Geschicklichkeit, während es in der un-
beholfenen Rechten kaum einen Löffel 'zu halten ver-
mochte. Allen Versuchen der Eltern und der Bonne,
es zu fleißiger Uebung der von der Natur vernach-
lässigten Hand zu bewegen, hatte es entweder ein
entschiedenes ,Jch will nicht!' oder bei strengem Befehl
Bitten und Thränen entgegengesetzt. Mir aber gelang
es durch Geduld und freundliche Vorstellungen, diesen
Widerstand zn besiegen, und schon nach wenigen
Monaten war in der Gewandtheit beider Hände kaum
noch ein Unterschied wahrzunehmen."
„Ein Ergebnis, das gewiß Ihrer Erziehungskunst
Ehre macht. Aber es war eben ein Kind!"
„Und was der Beharrlichkeit eines Kindes mög-
lich ist, das sollte ein Mann nicht vollbringen können
— ein Mann, der um das Glück seines Lebens kämpft,
dem als Lohn seiner Ausdauer das Höchste und Beste
winkt, was einem Menschen überhaupt auf Erden zu
teil werden kann? Nur wenn das Schicksal Sie Ihres
Augenlichts oder Ihrer beiden Hände beraubt hätte,
dürften Sie als ein Besiegter die Waffen strecken.
Wenn Sie es jetzt thun, so . . ."
„So sind Sie ein Feigling. Sprechen Sie es
immerhin aus, da ich ja nun weiß, daß Sie es denken
— und da — soll ich ehrlich gestehen? — da es mir
selbst fast so scheinen will. Seltsam! Alles das, was
Sie mir soeben sagten, habe ich auch aus dem Munde
der Aerzte gehört, die mir mit einem großen Aufwand
von Wissenschaftlichkeit nachwiesen, daß es durchaus
nicht zu den unmöglichen Dingen gehöre, mit der
linken Hand zu malen wie mit der rechten, zumal
wenn man, wie ich, in dieser recht gut die Palette
halten könne. Aber ich habe es immer nur für einen
gut gemeinten Tröstungsversuch genommen und bin
nicht einen Augenblick in Versuchung gewesen, daran
zu glauben. Und jetzt — jetzt ist mir's mit einemmal,
als müßte es sich wirklich erreichen lassen, als bedürfe
es in der That nur einiger Beharrlichkeit, um dahin
zu gelangen."
„O, halten Sie fest an dieser Hoffnung, Herr
von Gilsa!" ries Margarete, und wie Helle Freude
leuchtete es aus ihren schönen Augen. „Lassen Sie
sich durch keinen neuen Zweifel beirren und auf halbem
Wege ermüden!"
„Auf halbem Wege!" Er seufzte auf. „Ach, wie
lang wird dieser Weg sein, und wieviel Zeit wird
vergehen, ehe ich ihn auch nur zur Hälfte zurückgelegt
habe! Da — sehen Sie her! Erraten Sie, was das
bedeutet?"
Er hatte einen Crayon aus der Tasche gezogen und
mit der linken Hand auf die Rückseite des Telegramms,
das ihm seine Prämiierung meldete, etwas gezeichnet.
Margarete warf einen Blick auf die krausen Linien
und sagte ruhig:
„Gewiß, es ist eine Rose."
„Und sie sieht ganz so aus, als ob ein bedeutender
Künstler sie entworfen hätte — nicht wahr?"
„Nein, sie sieht aus wie die Zeichnung eines talent-
vollen Kindes, das schon das Auge des Künstlers hat,
dem aber noch das meiste und beste verloren geht auf
dem Wege vom Auge in die ungelenke Hand."
Bewundernd halb und halb betroffen blickte Herbert
in das frei und unbefangen ihm zugewandte Frauen-
antlitz, dessen wunderbar beseelte Schönheit ihm viel-
leicht nie zuvor in gleichem Maße zum Bewußtsein
gekommen war.
„Woher nehmen Sie diese wunderwirkende Kraft
der Ueberzeugung?" fragte er. „Erklären Sie mir das
Rätsel, daß ich Ihnen fast wider meinen Willen glauben
muß, was ich sonst keinem Menschen auf Erden ge-
glaubt hätte?"
„Die Erklärung dieses Rätsels liegt Wohl einzig
in Ihrer augenblicklichen Stimmung, Herr von Gilsa!
Wollen Sie mir erlauben, das Blatt mit der Zeichnung
zu behalten?"
„Zu welchem Zweck?"
„Lassen Sie das, bitte, vorläufig mein Geheimnis
sein! Ihre augenblickliche Stimmung aber möchte ich
benutzen, um Ihnen ein Versprechen abzugewinnen —
das Versprechen, daß Sie ernstlich und ausdauernd
versuchen werden, dem Rate Ihrer Aerzte zu folgen."
„Nicht meiner Aerzte, sondern Ihrem Rate, Frau
Margarete!" Er nannte sie zum erstenmal so, wie
seine Mutter sie zu nennen pflegte. „Ja, ich verspreche
es, aber nur unter einer zweifachen Bedingung."
„Unter einer Bedingung, die ich zu erfüllen hätte,
Herr von Gilsa?"
„Ja — Sie! Zum ersten darf niemand etwas
von diesen Versuchen erfahren. Führen sie zu einem
Erfolg, so wird es immer noch früh genug sein, meine
arme Mutter, der ich schon so viel Herzeleid angethan,
mit der Freudenkunde zu überraschen. Enden sie aber
mit einer Enttäuschung, so will ich den Schmerz der
zerstörten Hoffnung allein tragen und nicht auch ihn
noch dem Kummer der edelsten aller Frauen hinzu-
gefügt sehen. Sie verstehen und würdigen diese Gründe
! — nicht wahr?"