l
Illustrierte Mett.
„Vollkommen! Von mir wird sicherlich niemand
etwas erfahren. Und Ihre zweite Bedingung?"
„Die zweite ist, daß Sie meine Lehrmeisterin
machen."
„Ich? — Ach, das ist nicht Ihr Ernst!"
„Mein heiliger Ernst! Und daß wir uns recht
verstehen, Frau Margarete: Nicht meine Lehrmeisterin
in der Kunst des Zeichnens und Malens, sondern in
der tausendmal schwereren Kunst der Geduld. In
dieser, das fühle ich, werde ich noch für lange Zeit
ein gar armseliger Anfänger und Stümper bleiben,
und ich werde vielleicht manchmal nach der Hand
suchen, die mich stützt und hält, wenn die Müdigkeit
über mich kommen will und die Entmutigung. Werden
Sie mir dann diese Hand darbieten wie ein guter,
nachsichtiger Kamerad?"
„So oft es Sie danach verlangt, und immer mit
tausend Freuden! Aber . . ."
„Nun? Doch ein Aber?"
„Aber Sie werden ja bald fortgehen — auf lange,
ungewisse Zeit. Und wenn Sie zurückkehren, bin ich
wahrscheinlich nicht mehr hier im Hause."
Herbert von Gilsa zog die Brauen zusammen.
„Ah, diese Reise! Ja, Sie haben recht — daran
hatte ich nicht gedacht. Und ich werde fort müssen —
aus mehr als einem Grunde werde ich fort müssen.
Aber noch nicht heute und nicht morgen. Und bis zu
dem Tage, an dem ich wirklich gehen muß — bis zu
diesem Tage soll unsre Abmachung gelten — nicht
wahr?"
„Halten Sie Ihr Versprechen, Herr von Gilsa!
Dafür, daß ich das meinige erfüllen werde, stehe ich
Ihnen ein!"
Er machte eine Bewegung, als ob er ihr die Hand
küssen wolle; aber sie erriet seine Absicht und wich
zurück.
„Und jetzt gehen Sie zu Ihrer Mutter," bat sie,
ehe er hatte antworten können, in dringendem Tone.
„Sie werden ihr eine große Freude bereiten, wenn
Sie ihr eine heitere und gefaßte Miene zeigen. Denn
sie war sehr traurig über den Eindruck, den jene Nach-
richt auf Sie gemacht."
„Ja, ja, es war schlecht und thöricht, daß ich mich
so wenig zu beherrschen wußte. Wo aber werde ich
sic finden?"
„In ihrem Zimmer. Sie hat sich dahin mit meiner
Schwester zurückgezogen."
„Ach, Fräulein Jenny ist bei ihr! Ich eile, Ihren:
Befehl zu gehorchen. Sie sollen heute und künftig mit
mir zufrieden sein — mein guter Kamerad!"
Sechzehntes Kapitel.
Wenn Margarete erwartet hatte, daß Herbert
von Gilsa durch den auf ihre Vorstellungen hin ge-
faßten Entschluß seinem verderblichen Trübsinn ent--
rissen und in eine freudigere, hoffnungsvollere Stimmung
versetzt werden würde, so sah sie während der nächsten
Tage diese Erwartungen nur zum Teil erfüllt. Wohl
zeigte sich sein Wesen in der That völlig verändert;
aber diese Veränderung schien zunächst mehr danach
augethan, seine Umgebung zu beunruhigen als sie zu
erfreuen. Denn an die Stelle der gleichmäßigen Schweig-
samkeit und des stillen Vorsichhinbrütens war eine Er-
regung und nervöse Reizbarkeit getreten, für die Frau
von Gilsa und Jenny trotz allen Kopfzerbrechens durch-
aus keine Erklärung zu finden vermochten. Er konnte
jetzt in der einen Stunde gesprächig und heiter sein,
voll geistreicher Einfälle und warmherzigen Interesses
für den Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung, um
dann schon in der nächsten durch den geringfügigsten An-
laß zu Aeußerungen hingerissen zu werden, die — wenn
auch wider seinen Willen — der bekümmerten Mutter
die ganze Zerrissenheit seiner von Schmerz und Bitter-
keit erfüllten Seele bloßlegten.
Aber so wenig Frau von Gilsa diesen immer
wiederholten, schroffen Wechsel verstand, so klar traten
für Margarete seine Beweggründe zu Tage. Sie, die
seit jener Unterredung die Vertraute des jungen Künst-
lers geworden war, kannte ja allein das Martyrium,
das er jetzt zu durchleiden hatte, das ewige Auf und
Nieder der Stimmungen, das unaufhörliche, nerven-
zerrüttende Schwanken zwischen beglückter Hoffnung und
tiefster Mutlosigkeit. Daß diese letzte niemals dauernd
den Sieg behielt, war einzig ihr Verdienst. Denn sie
nahm es so heilig ernst mit den einmal übernommenen
kameradschaftlichen Pflichten, wie es nur eine Schwester
dem geliebten Bruder gegenüber hätte thun können. Sie
wurde nicht müde, mit klugen Worten zu trösten und
aufzurichten, wenn ein hartnäckiger Mißerfolg seines
heißen Bemühens den Ringenden an der Erreichung
des, ach, noch so fernen Zieles verzweifeln lassen wollte;
ja, sie schreckte im rechten Augenblick nicht einmal vor
aufstachelndem Tadel zurück, wenn der Entmutigte sich
in trotziger Herbheit der freundlichen Tröstung ver-
schloß. Dabei stellte die Heimlichkeit, mit der sie ihren
Verkehr umgeben mußten, ihrem gutgemeinten Bemühen
beständig die mannigfachsten Hindernisse in den Weg.
Sie mußte sich oft aus wenige abgerissene Worte be-
schränken, wo sie ihm so gern viel, viel mehr gesagt
hätte, und sie mußte manchmal, wenn eine Ueberraschung
drohte, das hastig geführte Zwiegespräch gerade in dem
Augenblick abbrechen, wo das Wärmste und Herzlichste
ausgesprochen werden sollte. Aber Herbert fühlte trotz
mancher durch solche Zwischenfälle bedingter kleiner
Mißverständnisse von Tag zu Tag tiefer und mehr,
einen wie köstlichen Segen die selbstlose Freundschaft
dieses edlen und tapferen Mädchens für ihn bedeute;
immer offener und rückhaltloser vertraute er sich ihr
an; immer lebhafter wünschte er die kärglich bemessenen
Minuten herbei, da er ihre weiche Stimme hören und
in die schönen Augen blicken durfte, die mit einer so
wunderbaren Beredsamkeit die Sprache ihrer Lippen
zu begleiten und zu ergänzen vermochten.
Ob die von ihnen geübte Vorsicht hinreichend ge-
wesen war, den andern das Geheimnis ihrer ver-
stohlenen Zusammenkünfte zu verbergen, wußten sie
nicht. Manchmal in diesen beiden Wochen, die jetzt
schon seit dem Eintreffen jenes entscheidenden Telegramms
vergangen waren, hatte Margarete allerdings die pein-
liche Empfindung gehabt, daß das Benehmen der Frau
von Gilsa gegen sie nicht mehr von der anfänglichen
Wärme und beinahe mütterlichen Vertraulichkeit sei,
daß sich hier und da sogar gewisse leise Anzeichen
eines erwachenden Mißtrauens bemerkbar machten.
Aber die sichere Unbefangenheit, mit der sie trotzdem
im Bewußtsein ihrer Gewissensreinheit der alten Dame
gegenüberzutreten vermochte — die überzeugende Sprache
ihrer klaren Augen und ihres unschuldigen Gesichts
mußten den Argwohn wohl immer sehr bald wieder
verscheucht haben, da jene scheinbaren Veränderungen
in dem Benehmen der gütigen alten Dame niemals
von langer Dauer waren.
Es war zur feststehenden Gewohnheit geworden,
daß Herbert sich nach dem abendlichen Thee, der die
vier Mitglieder des kleinen Hauswesens vereinigte,
noch einmal in das Bibliothekzimmer zurückzog, aus
dem er dann nur noch auf wenige Minuten wieder-
kehrte, um seiner Mutter und den beiden Gesellschafte-
rinnen Gutenacht zu wünschen. Heute zum erstenmal
geschah es, daß er zur stillen Verwunderung der andern
davon eine Ausnahme machte. Aber er war sicherlich
nichtdeshalbgeblieben, weil er sich gerade heute etwa
besonders zum Plaudern aufgelegt gefühlt hätte; denn
er hatte sich während des Abendessens recht schweigsam
Verhalten und befand sich offenbar in wenig glücklicher
Stimmung. Daß er nicht wie sonst mit stummer
Verbeugung das Gemach verließ, mußte also eine andre,
diesmal auch für Margarete unverständliche Ursache
haben. Sie zerbrach sich darüber den Kopf, und auch
Frau von Gilsa, zwischen Bangen und Hoffnung
schwankend, blickte oft wie in zaghafter Frage zu ihrem
stillen Sohn hinüber.
Eine nur machte sich augenscheinlich keinerlei be-
sorgte oder hoffnungsvolle Gedanken. Und diese eine
war Jenny, die kaum jemals feit ihrem Eintritt in das
Gilsasche Haus eine so sprühende Laune, eine so über-
sprudelnde Lustigkeit an den Tag gelegt hatte wie
gerade heute. Sie hatte guten Grund, fröhlich zu sein,
denn ihr mit seinem Lobe sonst recht sparsamer Gesang-
lehrer hatte ihr kurz zuvor so schöne und angenehme
Dinge über ihr Talent wie über ihre Fortschritte ge-
sagt, daß sie ihre Zukunft wie im goldigsten Sonnen-
schein vor sich sah und recht in der Stimmung war,
die ganze Welt zu umarmen. Unerschöpflich in lustigen
Einfällen und munteren Bemerkungen, kümmerte sie
sich nicht im mindesten um die Schweigsamkeit der
andern iind war ebenso bezaubernd liebenswürdig als
sie bestrickend hübsch aussah. Frau von Gilsa suchte
sie durch freundliche Worte in dieser Laune zu erhalten,
obwohl sie in ihre Heiterkeit nicht einstimmen konnte,
und Jenny war höchlichst verwundert über den flüch-
tigen Laus der Viertelstunden, als die sonoren Schläge
der Standuhr verkündeten, daß nach der streng ge-
regelten Hausordnung die Zeit des Schlafengehens
gekommen sei.
Wie immer, reichte sie Herbert die Hand, ehe sie
sich anschickte, Frau von Gilsa in ihr Schlafzimmer
zu geleiten, und es überraschte sie ebenso sehr, als es
sie in Verwirrung brachte, daß der junge Maler diese
Hand gegen seine Gewohnheit ein paar Sekunden.lang
mit festem, beinahe heißem Druck in der seinigen be-
hielt und dabei, sich tief zu ihr herabneigend, flüsterte:
„Ich danke Ihnen für den heutigen Abend, Fräu-
lein Jenny!"
Sie wußte nichts zu antworten; aber sie sah sich
verstohlen um, ob wohl die andern etwas gehört hätten.
Doch Frau von Gilsa besprach eben mit Margarete
einige häusliche Angelegenheiten für den folgenden
Tag, und es war außer Zweifel, daß ihnen der un-
bedeutende Vorgang völlig entgangen war. Errötend
neigte sie ein wenig das Köpfchen und schlüpfte dann,
sobald sie ihre Hand hatte frei machen können, zu der
alten Dame hinüber. Ihre rosige Stimmung war
durch den kleinen Zwischenfall nicht beeinträchtigt
worden, aber sie fühlte jetzt kein Bedürfnis mehr, ihr
durch laute Fröhlichkeit Ausdruck zu geben. Ein nach-
395
deutlicher, träumerischer Ernst war auf ihrem Ge-
sichtchen, als sie nach der Verabschiedung von Frau
von Gilsa das Schlafzimmer betrat, das sie mit Mar-
garete teilte. Und während sie es sonst liebte, das
abendliche Plauderstündchen noch eine Weile im Bett
fortzusetzen, schloß sie heute sofort die Augen und
stellte sich schlafend, nur um ganz ungestört den selt-
samen Gedanken nachhangen zu können, die sich ihr
aufdrängten, wenn sie an Herberts Händedruck, an
seinen Blick und an den Dank zurückdachte, den er mit
soviel Wärme ausgesprochen, obwohl sie sich doch durch-
aus nicht bewußt war, etwas gethan zu haben, das
Dank verdiente.
Als Margarete am nächsten Morgen durch eines
der selten benutzten Zimmer des Hauses ging, trat
Herbert eben durch die gegenüberliegende Thür in das-
selbe ein. Die junge Frau erschrak bei seinem Anblick,
denn er sah bleich und müde aus, wie jemand, der
eine schlaflose, sorgenschwere Nacht überstanden. Er
hielt ein zusammengerolltes Blatt in der Hand und
kam rasch auf sie zu.
„Guten Morgen, Frau Margarete! Seit einer
Viertelstunde suche ich Sie überall, denn ich möchte
Ihnen etwas zeigen."
Er entrollte das Papier, ein aus seinem Skizzen-
buche gerissenes Blatt, und hielt es ihr entgegen.
„Antworten Sie mir ehrlich wie immer: Ist es
gelungen?"
Schon der unwillkürliche Ausruf der Ueberraschung,
der von Margaretens Lippen kam, wäre Antwort genug
gewesen.
„Meine Schwester! — Und das haben Sie wirklich
gezeichnet, Herr von Gilsa? Mit der linken Hand?"
„Freilich — da ich ja nur diese eine habe. Sie
finden also eine Ähnlichkeit? Sie halten es nicht für
völlig mißraten?"
„Es ist sprechend ähnlich. Und ich stehe davor wie
vor einem Wunder. Wenn es nicht ein so abenteuer-
licher Gedanke wäre, müßte ich mich wahrhaftig ver-
sucht fühlen, zu glauben, daß Sie sich mit allem, was
Sie mir bisher gezeigt, nur hätten über mich lustig
machen wollen. Dies ist ja schon eine richtige künst-
lerische Leistung und sicherlich doch die Arbeit mehrerer
Tage."
„Nein. Ich habe es in dieser letzten Nacht an-
gefangen und vollendet. Aber, Ihr Urteil in Ehren,
Frau Margarete, mir selbst will es herzlich wenig
gefallen. Wenn ich mir das Original vorstelle, er-
scheint es mir nicht anders denn als eine jämmerliche
Stümperei."
„Sie haben es ganz aus dem Gedächtnis gezeichnet?
Und in einer einzigen Nacht? Ich beglückwünsche Sie,
Herr von Gilsa, denn nun hege ich keinen Zweifel
mehr, daß Sie, dem Schicksal zum Trotz, den begon-
nenen Weg vollenden werden."
Der Klang ihrer Worte mußte ihm offenbaren, daß
sie ihr aus vollem Herzen kamen, aber sie übten auf
ihn trotzdem nicht die Wirkung, die Margarete erwartet
haben mochte.
„Und wenn Sie recht hätten, wenn ich es nach
jahrelangem aufreibendem Kämpfen und Ringen wirk-
lich dahin brächte, da wieder anzufangen, wo ich an
jenem Morgen aufgehört — wenn ich in der That
noch einmal meine Hand nach dem Lorbeer des Künst-
lers ausstrecken dürfte —, würde ich als Mensch nicht
trotzdem immer ein armer Krüppel bleiben, der nie-
mals begehren darf, was das Leben schmückt und lebens-
wert macht? Nein, nein, liebe Frau Margarete, wider-
sprechen Sie mir nicht und antworten Sie mir nicht!
Wie gut Sie mich auch in allem andern begreifen
mögen, dies eine können Sie doch nicht ganz verstehen!
Und es war auch gar nicht meine Absicht, Ihnen etwas
vorzujammern. Ich wollte Ihnen nur noch mitteilen,
daß ich mich jetzt endlich entschlossen habe, zu reisen —
morgen mit dem frühesten, oder vielleicht auch noch
heute abend."
Auch wenn sie eine viel bessere Schauspielerin ge-
wesen wäre, als die Natur aus ihr gemacht hatte,
wäre die junge Frau bei dieser unerwarteten Eröff-
nung wohl kaum im stände gewesen, ihre Betroffenheit
zu verbergen. Für einen Moment malte sich die Be-
trübnis so deutlich auf ihrem schönen Gesicht, daß
Herbert hätte blind sein müssen, um sie nicht wahrzu-
nehmen.
„Es ist also fest beschlossen? Und so plötzlich?"
„Ja, ich habe es lange genug hinausgeschoben,"
sagte er, ohne sie anzusehen, beinahe rauh. „Wenn
ich nicht jetzt gehe, heute oder morgen, so werde ich
wahrscheinlich überhaupt nicht mehr die Kraft dazu
finden. Und es würde zu nichts Gutem führen, wenn
ich bliebe."
Sie fragte ihn nicht, warum es zu nichts Gutem
führen würde, sondern sie nahm vielmehr die ganze
Kraft ihres Willens zusammen, um ihm ihre Nieder-
geschlagenheit zu verbergen.
„Aber Sie werden unterwegs Ihre Studien fort-
setzen," fragte sie nur, „nicht wahr? Sie dürfen es
nicht ausgeben, auch wenn niemand mehr da ist, der
Illustrierte Mett.
„Vollkommen! Von mir wird sicherlich niemand
etwas erfahren. Und Ihre zweite Bedingung?"
„Die zweite ist, daß Sie meine Lehrmeisterin
machen."
„Ich? — Ach, das ist nicht Ihr Ernst!"
„Mein heiliger Ernst! Und daß wir uns recht
verstehen, Frau Margarete: Nicht meine Lehrmeisterin
in der Kunst des Zeichnens und Malens, sondern in
der tausendmal schwereren Kunst der Geduld. In
dieser, das fühle ich, werde ich noch für lange Zeit
ein gar armseliger Anfänger und Stümper bleiben,
und ich werde vielleicht manchmal nach der Hand
suchen, die mich stützt und hält, wenn die Müdigkeit
über mich kommen will und die Entmutigung. Werden
Sie mir dann diese Hand darbieten wie ein guter,
nachsichtiger Kamerad?"
„So oft es Sie danach verlangt, und immer mit
tausend Freuden! Aber . . ."
„Nun? Doch ein Aber?"
„Aber Sie werden ja bald fortgehen — auf lange,
ungewisse Zeit. Und wenn Sie zurückkehren, bin ich
wahrscheinlich nicht mehr hier im Hause."
Herbert von Gilsa zog die Brauen zusammen.
„Ah, diese Reise! Ja, Sie haben recht — daran
hatte ich nicht gedacht. Und ich werde fort müssen —
aus mehr als einem Grunde werde ich fort müssen.
Aber noch nicht heute und nicht morgen. Und bis zu
dem Tage, an dem ich wirklich gehen muß — bis zu
diesem Tage soll unsre Abmachung gelten — nicht
wahr?"
„Halten Sie Ihr Versprechen, Herr von Gilsa!
Dafür, daß ich das meinige erfüllen werde, stehe ich
Ihnen ein!"
Er machte eine Bewegung, als ob er ihr die Hand
küssen wolle; aber sie erriet seine Absicht und wich
zurück.
„Und jetzt gehen Sie zu Ihrer Mutter," bat sie,
ehe er hatte antworten können, in dringendem Tone.
„Sie werden ihr eine große Freude bereiten, wenn
Sie ihr eine heitere und gefaßte Miene zeigen. Denn
sie war sehr traurig über den Eindruck, den jene Nach-
richt auf Sie gemacht."
„Ja, ja, es war schlecht und thöricht, daß ich mich
so wenig zu beherrschen wußte. Wo aber werde ich
sic finden?"
„In ihrem Zimmer. Sie hat sich dahin mit meiner
Schwester zurückgezogen."
„Ach, Fräulein Jenny ist bei ihr! Ich eile, Ihren:
Befehl zu gehorchen. Sie sollen heute und künftig mit
mir zufrieden sein — mein guter Kamerad!"
Sechzehntes Kapitel.
Wenn Margarete erwartet hatte, daß Herbert
von Gilsa durch den auf ihre Vorstellungen hin ge-
faßten Entschluß seinem verderblichen Trübsinn ent--
rissen und in eine freudigere, hoffnungsvollere Stimmung
versetzt werden würde, so sah sie während der nächsten
Tage diese Erwartungen nur zum Teil erfüllt. Wohl
zeigte sich sein Wesen in der That völlig verändert;
aber diese Veränderung schien zunächst mehr danach
augethan, seine Umgebung zu beunruhigen als sie zu
erfreuen. Denn an die Stelle der gleichmäßigen Schweig-
samkeit und des stillen Vorsichhinbrütens war eine Er-
regung und nervöse Reizbarkeit getreten, für die Frau
von Gilsa und Jenny trotz allen Kopfzerbrechens durch-
aus keine Erklärung zu finden vermochten. Er konnte
jetzt in der einen Stunde gesprächig und heiter sein,
voll geistreicher Einfälle und warmherzigen Interesses
für den Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung, um
dann schon in der nächsten durch den geringfügigsten An-
laß zu Aeußerungen hingerissen zu werden, die — wenn
auch wider seinen Willen — der bekümmerten Mutter
die ganze Zerrissenheit seiner von Schmerz und Bitter-
keit erfüllten Seele bloßlegten.
Aber so wenig Frau von Gilsa diesen immer
wiederholten, schroffen Wechsel verstand, so klar traten
für Margarete seine Beweggründe zu Tage. Sie, die
seit jener Unterredung die Vertraute des jungen Künst-
lers geworden war, kannte ja allein das Martyrium,
das er jetzt zu durchleiden hatte, das ewige Auf und
Nieder der Stimmungen, das unaufhörliche, nerven-
zerrüttende Schwanken zwischen beglückter Hoffnung und
tiefster Mutlosigkeit. Daß diese letzte niemals dauernd
den Sieg behielt, war einzig ihr Verdienst. Denn sie
nahm es so heilig ernst mit den einmal übernommenen
kameradschaftlichen Pflichten, wie es nur eine Schwester
dem geliebten Bruder gegenüber hätte thun können. Sie
wurde nicht müde, mit klugen Worten zu trösten und
aufzurichten, wenn ein hartnäckiger Mißerfolg seines
heißen Bemühens den Ringenden an der Erreichung
des, ach, noch so fernen Zieles verzweifeln lassen wollte;
ja, sie schreckte im rechten Augenblick nicht einmal vor
aufstachelndem Tadel zurück, wenn der Entmutigte sich
in trotziger Herbheit der freundlichen Tröstung ver-
schloß. Dabei stellte die Heimlichkeit, mit der sie ihren
Verkehr umgeben mußten, ihrem gutgemeinten Bemühen
beständig die mannigfachsten Hindernisse in den Weg.
Sie mußte sich oft aus wenige abgerissene Worte be-
schränken, wo sie ihm so gern viel, viel mehr gesagt
hätte, und sie mußte manchmal, wenn eine Ueberraschung
drohte, das hastig geführte Zwiegespräch gerade in dem
Augenblick abbrechen, wo das Wärmste und Herzlichste
ausgesprochen werden sollte. Aber Herbert fühlte trotz
mancher durch solche Zwischenfälle bedingter kleiner
Mißverständnisse von Tag zu Tag tiefer und mehr,
einen wie köstlichen Segen die selbstlose Freundschaft
dieses edlen und tapferen Mädchens für ihn bedeute;
immer offener und rückhaltloser vertraute er sich ihr
an; immer lebhafter wünschte er die kärglich bemessenen
Minuten herbei, da er ihre weiche Stimme hören und
in die schönen Augen blicken durfte, die mit einer so
wunderbaren Beredsamkeit die Sprache ihrer Lippen
zu begleiten und zu ergänzen vermochten.
Ob die von ihnen geübte Vorsicht hinreichend ge-
wesen war, den andern das Geheimnis ihrer ver-
stohlenen Zusammenkünfte zu verbergen, wußten sie
nicht. Manchmal in diesen beiden Wochen, die jetzt
schon seit dem Eintreffen jenes entscheidenden Telegramms
vergangen waren, hatte Margarete allerdings die pein-
liche Empfindung gehabt, daß das Benehmen der Frau
von Gilsa gegen sie nicht mehr von der anfänglichen
Wärme und beinahe mütterlichen Vertraulichkeit sei,
daß sich hier und da sogar gewisse leise Anzeichen
eines erwachenden Mißtrauens bemerkbar machten.
Aber die sichere Unbefangenheit, mit der sie trotzdem
im Bewußtsein ihrer Gewissensreinheit der alten Dame
gegenüberzutreten vermochte — die überzeugende Sprache
ihrer klaren Augen und ihres unschuldigen Gesichts
mußten den Argwohn wohl immer sehr bald wieder
verscheucht haben, da jene scheinbaren Veränderungen
in dem Benehmen der gütigen alten Dame niemals
von langer Dauer waren.
Es war zur feststehenden Gewohnheit geworden,
daß Herbert sich nach dem abendlichen Thee, der die
vier Mitglieder des kleinen Hauswesens vereinigte,
noch einmal in das Bibliothekzimmer zurückzog, aus
dem er dann nur noch auf wenige Minuten wieder-
kehrte, um seiner Mutter und den beiden Gesellschafte-
rinnen Gutenacht zu wünschen. Heute zum erstenmal
geschah es, daß er zur stillen Verwunderung der andern
davon eine Ausnahme machte. Aber er war sicherlich
nichtdeshalbgeblieben, weil er sich gerade heute etwa
besonders zum Plaudern aufgelegt gefühlt hätte; denn
er hatte sich während des Abendessens recht schweigsam
Verhalten und befand sich offenbar in wenig glücklicher
Stimmung. Daß er nicht wie sonst mit stummer
Verbeugung das Gemach verließ, mußte also eine andre,
diesmal auch für Margarete unverständliche Ursache
haben. Sie zerbrach sich darüber den Kopf, und auch
Frau von Gilsa, zwischen Bangen und Hoffnung
schwankend, blickte oft wie in zaghafter Frage zu ihrem
stillen Sohn hinüber.
Eine nur machte sich augenscheinlich keinerlei be-
sorgte oder hoffnungsvolle Gedanken. Und diese eine
war Jenny, die kaum jemals feit ihrem Eintritt in das
Gilsasche Haus eine so sprühende Laune, eine so über-
sprudelnde Lustigkeit an den Tag gelegt hatte wie
gerade heute. Sie hatte guten Grund, fröhlich zu sein,
denn ihr mit seinem Lobe sonst recht sparsamer Gesang-
lehrer hatte ihr kurz zuvor so schöne und angenehme
Dinge über ihr Talent wie über ihre Fortschritte ge-
sagt, daß sie ihre Zukunft wie im goldigsten Sonnen-
schein vor sich sah und recht in der Stimmung war,
die ganze Welt zu umarmen. Unerschöpflich in lustigen
Einfällen und munteren Bemerkungen, kümmerte sie
sich nicht im mindesten um die Schweigsamkeit der
andern iind war ebenso bezaubernd liebenswürdig als
sie bestrickend hübsch aussah. Frau von Gilsa suchte
sie durch freundliche Worte in dieser Laune zu erhalten,
obwohl sie in ihre Heiterkeit nicht einstimmen konnte,
und Jenny war höchlichst verwundert über den flüch-
tigen Laus der Viertelstunden, als die sonoren Schläge
der Standuhr verkündeten, daß nach der streng ge-
regelten Hausordnung die Zeit des Schlafengehens
gekommen sei.
Wie immer, reichte sie Herbert die Hand, ehe sie
sich anschickte, Frau von Gilsa in ihr Schlafzimmer
zu geleiten, und es überraschte sie ebenso sehr, als es
sie in Verwirrung brachte, daß der junge Maler diese
Hand gegen seine Gewohnheit ein paar Sekunden.lang
mit festem, beinahe heißem Druck in der seinigen be-
hielt und dabei, sich tief zu ihr herabneigend, flüsterte:
„Ich danke Ihnen für den heutigen Abend, Fräu-
lein Jenny!"
Sie wußte nichts zu antworten; aber sie sah sich
verstohlen um, ob wohl die andern etwas gehört hätten.
Doch Frau von Gilsa besprach eben mit Margarete
einige häusliche Angelegenheiten für den folgenden
Tag, und es war außer Zweifel, daß ihnen der un-
bedeutende Vorgang völlig entgangen war. Errötend
neigte sie ein wenig das Köpfchen und schlüpfte dann,
sobald sie ihre Hand hatte frei machen können, zu der
alten Dame hinüber. Ihre rosige Stimmung war
durch den kleinen Zwischenfall nicht beeinträchtigt
worden, aber sie fühlte jetzt kein Bedürfnis mehr, ihr
durch laute Fröhlichkeit Ausdruck zu geben. Ein nach-
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deutlicher, träumerischer Ernst war auf ihrem Ge-
sichtchen, als sie nach der Verabschiedung von Frau
von Gilsa das Schlafzimmer betrat, das sie mit Mar-
garete teilte. Und während sie es sonst liebte, das
abendliche Plauderstündchen noch eine Weile im Bett
fortzusetzen, schloß sie heute sofort die Augen und
stellte sich schlafend, nur um ganz ungestört den selt-
samen Gedanken nachhangen zu können, die sich ihr
aufdrängten, wenn sie an Herberts Händedruck, an
seinen Blick und an den Dank zurückdachte, den er mit
soviel Wärme ausgesprochen, obwohl sie sich doch durch-
aus nicht bewußt war, etwas gethan zu haben, das
Dank verdiente.
Als Margarete am nächsten Morgen durch eines
der selten benutzten Zimmer des Hauses ging, trat
Herbert eben durch die gegenüberliegende Thür in das-
selbe ein. Die junge Frau erschrak bei seinem Anblick,
denn er sah bleich und müde aus, wie jemand, der
eine schlaflose, sorgenschwere Nacht überstanden. Er
hielt ein zusammengerolltes Blatt in der Hand und
kam rasch auf sie zu.
„Guten Morgen, Frau Margarete! Seit einer
Viertelstunde suche ich Sie überall, denn ich möchte
Ihnen etwas zeigen."
Er entrollte das Papier, ein aus seinem Skizzen-
buche gerissenes Blatt, und hielt es ihr entgegen.
„Antworten Sie mir ehrlich wie immer: Ist es
gelungen?"
Schon der unwillkürliche Ausruf der Ueberraschung,
der von Margaretens Lippen kam, wäre Antwort genug
gewesen.
„Meine Schwester! — Und das haben Sie wirklich
gezeichnet, Herr von Gilsa? Mit der linken Hand?"
„Freilich — da ich ja nur diese eine habe. Sie
finden also eine Ähnlichkeit? Sie halten es nicht für
völlig mißraten?"
„Es ist sprechend ähnlich. Und ich stehe davor wie
vor einem Wunder. Wenn es nicht ein so abenteuer-
licher Gedanke wäre, müßte ich mich wahrhaftig ver-
sucht fühlen, zu glauben, daß Sie sich mit allem, was
Sie mir bisher gezeigt, nur hätten über mich lustig
machen wollen. Dies ist ja schon eine richtige künst-
lerische Leistung und sicherlich doch die Arbeit mehrerer
Tage."
„Nein. Ich habe es in dieser letzten Nacht an-
gefangen und vollendet. Aber, Ihr Urteil in Ehren,
Frau Margarete, mir selbst will es herzlich wenig
gefallen. Wenn ich mir das Original vorstelle, er-
scheint es mir nicht anders denn als eine jämmerliche
Stümperei."
„Sie haben es ganz aus dem Gedächtnis gezeichnet?
Und in einer einzigen Nacht? Ich beglückwünsche Sie,
Herr von Gilsa, denn nun hege ich keinen Zweifel
mehr, daß Sie, dem Schicksal zum Trotz, den begon-
nenen Weg vollenden werden."
Der Klang ihrer Worte mußte ihm offenbaren, daß
sie ihr aus vollem Herzen kamen, aber sie übten auf
ihn trotzdem nicht die Wirkung, die Margarete erwartet
haben mochte.
„Und wenn Sie recht hätten, wenn ich es nach
jahrelangem aufreibendem Kämpfen und Ringen wirk-
lich dahin brächte, da wieder anzufangen, wo ich an
jenem Morgen aufgehört — wenn ich in der That
noch einmal meine Hand nach dem Lorbeer des Künst-
lers ausstrecken dürfte —, würde ich als Mensch nicht
trotzdem immer ein armer Krüppel bleiben, der nie-
mals begehren darf, was das Leben schmückt und lebens-
wert macht? Nein, nein, liebe Frau Margarete, wider-
sprechen Sie mir nicht und antworten Sie mir nicht!
Wie gut Sie mich auch in allem andern begreifen
mögen, dies eine können Sie doch nicht ganz verstehen!
Und es war auch gar nicht meine Absicht, Ihnen etwas
vorzujammern. Ich wollte Ihnen nur noch mitteilen,
daß ich mich jetzt endlich entschlossen habe, zu reisen —
morgen mit dem frühesten, oder vielleicht auch noch
heute abend."
Auch wenn sie eine viel bessere Schauspielerin ge-
wesen wäre, als die Natur aus ihr gemacht hatte,
wäre die junge Frau bei dieser unerwarteten Eröff-
nung wohl kaum im stände gewesen, ihre Betroffenheit
zu verbergen. Für einen Moment malte sich die Be-
trübnis so deutlich auf ihrem schönen Gesicht, daß
Herbert hätte blind sein müssen, um sie nicht wahrzu-
nehmen.
„Es ist also fest beschlossen? Und so plötzlich?"
„Ja, ich habe es lange genug hinausgeschoben,"
sagte er, ohne sie anzusehen, beinahe rauh. „Wenn
ich nicht jetzt gehe, heute oder morgen, so werde ich
wahrscheinlich überhaupt nicht mehr die Kraft dazu
finden. Und es würde zu nichts Gutem führen, wenn
ich bliebe."
Sie fragte ihn nicht, warum es zu nichts Gutem
führen würde, sondern sie nahm vielmehr die ganze
Kraft ihres Willens zusammen, um ihm ihre Nieder-
geschlagenheit zu verbergen.
„Aber Sie werden unterwegs Ihre Studien fort-
setzen," fragte sie nur, „nicht wahr? Sie dürfen es
nicht ausgeben, auch wenn niemand mehr da ist, der