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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 51.1903

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Heft 23
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https://doi.org/10.11588/diglit.55112#0514
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511

„Sie hier, Herr Hartmann? Was ist denn
los?"
„Wollen der junge Herr die Frenndlichkeit haben,
einen Augenblick einzutreten?"
„Doch nichts Unangenehmes?"
Der alte Mann schob dem Sohn seines Prinzi-
pals einen Stuhl hin. „Sie wissen natürlich, Herr
Brnnslow, daß bei dem allgemeinen Niedergang
aller Geschäfte auch unsere Firma schwere Verluste
erlitten hat —"
„Nichts weiß ich! Kein Wort!" Kurt sprang
auf. Gar zu seltsam sah das graue, pergameutene
Gesicht ihn an. „Machen Sie's kurz, Hartmann,
den ganzen bitteren Trank auf einmal! Die Firma
hat für ihre Existenz zu fürchten?"
„Nein, zu fürchten hat sie nichts mehr," ant-
wortete der Buchhalter trocken.
„Was heißt das?" Der junge Mann fühlte ein
Frösteln.
„Wenn Sie's mit einem Wort wissen wollen:
am heutigen Tage hat die Firma Brnnslow auf-
gehört zu existieren."
„Was?! Aufgehört zu existieren? Wie ist das
möglich?"
„Herr Brnnslow glaubte ja, den Betrieb noch
eine Weile aufrecht erhalten zu können, ich nicht.
Ich habe schon seit Wochen zur Liquidation geraten.
Damals hätten wir es noch niit Ehren gekonnt.
Aber wie denn kein Unglück allein kommt, gestern
abend ist Momberger, der Kassierer, mit den letzten
achtzigtausend Mark in bar flüchtig geworden. Das
war das Ende."
„Und mein Vater? — Wo ist mein Vater?"
Hartmann betrachtete den jungen Mann über
seine Brillengläser weg. Es lag keine Zuneigung
in dem Blick. Es hatte in Wort und Stimme keine
Schonung, kein Mitgefühl gelegen.
„Herr Brnnslow hat sich nur darüber aufgeregt,
wie Sie, sein Sohn, dies Unglück aufnehmen wür-
den."
„Mit Recht, Hartmann! Es war unverantwort-
lich, mich in Blindheit hinleben zu lassen, wo viel-
leicht durch Einschränkung, durch Vorsicht-- Wir
haben wirklich alles verloren, Hartmann, alles, was
wir haben?"
„Sie haben mich noch nicht recht verstanden,
Herr Brnnslow. Sie haben viel mehr verloren.
Selbstverständlich ist der Telegraph nach allen See-
häfen in Bewegung gesetzt, um Mombergers habhaft
zu werden. Gelingt es, so würde das die Verluste
der Gläubiger mildern. Die Firma Brnnslow aber
ist und bleibt tot. Die Gerichtsherren sind eben
dabei, die Bücher zu versiegeln."
„Unverantwortlich!" Kurt lief in dem kleinen
Privatzimmer des Buchhalters auf und nieder. Sein
Gesicht glühte jetzt. Sogar die kleinen Äderchen in
seinen Äugen waren rot unterlaufen. „Und nichts
zu machen, sagen Sie, Hartmann? Nichts zu
machen?"
„Es müßte denn sein. Sie hätten die Summen,
die die Kasse Ihnen in den letzten drei Jahren ans
Ihr Verlangen ausgezahlt hat, noch als Reserven
liegen."
„Das hätten Sie mir vor drei Jahren sagen
sollen, Hartmann, nicht heute."
„Ich habe mir schon damals erlaubt —"
„Und ich glaubte Ihnen nicht. Es war auch
nicht Ihres Amtes. Mein Vater hätte-Wo
ist er? Oben?"
„Die Aufregung hat Herrn Brnnslow nieder-
geworfen. Ein leichter Schlaganfall, sagt der Arzt.
Wenn ich Ihnen noch einmal einen Rat erteilen
darf, Herr Brnnslow, so wäre es der, aufs vorsich-
tigste Ihre Worte abzuwägen einem Manne gegen-
über, dessen einziger Fehler gewesen ist, daß er nicht
den Mut hatte, Sie in Ihrem Lebensgenuß zu be-
schränken."
„Das danke ihm, wer kann," sagte Kurt Brnns-
low zwischen den Zähnen. „Gute Nacht, Hart-
innuu."
Er stieg die Treppe hinauf. Einen Augenblick
stand er vor der Kammertür seines Vaters. Nein,
er vermochte es nicht, jetzt ein versöhnliches Wort
zu sprechen, und seiner Erbitterung die Zügel schie-
ßen zu lassen vor dem Schwerkranken — Hartmann
hatte recht — das ging nicht.
Er trat in sein eigenes Zimmer, ein sybaritisches
Nestchen mit Smyrnateppichen, Fellen, Diwans,
Rauch- und Spieltischen, mit all dem modischen
Kleinkram eines verwöhnten Lebemannes Von
den Wänden schauten die Bilder schöner Pferde und
scköner Frauen ihn an. Er drehte den Schlusiel
im Schloß um. Ein wahnsinniger Grimm kochte
in ihm. Sein sorgloses Leben im Sonnenschein aus
— mit einem Hieb totgeschlagen, wie Knaben einen
Schmetterling aus der Lust schlagen. Er selbst hm-
untergestoßen in das Heer der Arbeitssklaven, die
für ihr tägliches Brot scharwerken, unterschieden

einer vom anderen nur durch den Namen, den er
trägt. Auf die Jugend eines Prinzen das Alter
eines Packträgers! — Und nur, weil der schwache,
törichte Mann, der sein Vater war, nicht den Mut
gefunden hatte, ihm zu rechter Zeit zu sagen: Halt,
so geht's nicht weiter! — Ob Magda Meiner schon
von dem Umschwung seiner Verhältnisse gewußt
hatte? Der alte Meiner gewiß. Die Spatzen hatten
es ja wohl auf den Dächern gepfiffen. Nur er, er,
deu es vor allen anderen anging, ahnte nichts,
wußte nichts.
Ein Pochen an seiner Tür. Er antwortete nicht.
Er wollte niemand hören, niemand sehen. Es pochte
lauter, rüttelte am Schloß. Jetzt die Stimme des
Hausmädchens: „Herr Brnnslow, der Herr Dok-
tor ist hier. Der Herr Doktor möchte Sie sprechen.
Es geht schlecht."
Kurt schob den Riegel zurück. Unter der Gas-
flamme ans deni Treppenabsatz stand der alte Medi-
zinalrat.
„Erschrecken Sie nicht, Herr Brnnslow. Noch
ist keine Gefahr. Ihr Herr Vater ist nur sehr auf-
geregt, und — hm — es könnte immerhin sein, daß
die Aufregung eine Wiederholung des'Anfalls nach
sich zöge. Ich habe den Eindruck, daß Ihre Gegen-
wart, ein paar recht gute, tröstliche Worte von
Ihnen beruhigend wirken würden." Der alte Herr
räusperte sich. Sein Blick sagte mehr als seine
Worte. „Ihr Herr Vater hängt sehr an Ihnen,
Herr Brnnslow."
Kurts Lippen verzogen sich. „Ich danke Ihnen,
Herr Medizinalrat."
Er sagte nichts, fragte nichts weiter. Verwun-
dert sah der alte Herr auf das Gesicht im grellen
Gaslicht, das er nur weich und beweglich geschaut
hatte und kaum wiedererkannte in seiner masken-
haften Starrheit.
„Ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen das zn
sagen, Herr Brnnslow, — ehe es zu spät ist. Mor-
gen früh komme ich wieder."
„Gute Nacht!"
Kurt ging nicht hinunter in seines Vaters Zim-
mer. Er vermochte es nicht über sich. Er drehte
das elektrische Licht auf, saß vor seinem Tisch und
starrte stumpf alle die bekannten Dinge um ihn an,
die nun von ihm abfallen würden wie ein Kleid,
das ihm nicht mehr gehörte. Wirre Stimmen klangen
vor seinem Ohr, wiederholten Fetzen von Sätzen, die
er heute gehört hatte von seinen Freunden, von
Magda, von Hartmann. Und plötzlich jetzt ganz
denüich des Mediziualrats Stimme: Der Anfall kann
sich wiederholen.
Unwillkürlich sprang er auf. Er setzte sich aber
wieder nieder. — Und wenn er sich wiederholte?
— Einfach beneidenswert der da unten! Machte
sich aus dem Staub, nun die Dinge schlimm gingen,
ließ Verarmung, Demütigring, die Erbitterung der
Beraubten, ihm, dem Sohn, zurück!
Stunden verrannen. Den Kopf in den Händen
saß Kurt Brnnslow, in seiner Seele nichts als das
Bewußtsein seines Verlustes, und den wilden Groll
gegen den, der ihm das Wertvollste, das es für ihn
gab, vernichtet hatte, die Möglichkeit, ohne Schranken
seine Individualität auszuleben.-
Ans einmal schärfte sich sein stumpfer Blick. Auf
dem Tisch vor ihm stand eine Photographie: sein erstes
Pferd, ein Pony. Als Schuljunge hatte er ihn von
seinem Vater bekommen. Deutlich sah er den lichten
Maimorgen vor sich, fühlte wieder die fast unglaub-
liche Freude, als sein Vater es vorführen ließ.
,Der gehört dir!" Dabei hatten des Alten Augen
geleuchtet — fast so hell wie seine eigenen. Und
als er sich hinanfschwang, die Straße hinunter-
galoppierte in den lichten, blühenden Frühling hin-
aus, war der Vater still zurückgekehrt in das däm-
merige Kontor an seinen Schreibtisch. So war's
geblieben Jahr um Jahr. Bei jedem Wunsch, den
Kurt sich erfüllte, bei jedem Genuß, den er sich ver-
schaffte, sah seine Erinnerung des Vaters Gesicht
ausstrahlen in Mitfreude, in herzlicher Befriedigung,
und gleich darauf verschwinden im Schatten des
Schreibpultes. Für sich selbst hatte Brunslow senior
nie einen Wunsch gehegt, nie einen Genuß erstrebt, nie.
Kurt sprang wieder auf. Wenn's Schwäche ge-
wesen war, die ihn in Blindheit hinleben ließ, so
war's die Schwäche zu großer Liebe. Für das,
was ihn selbst abgehalten hatte, zu sehen, sich vom
Stand der Dinge zu überzeugen, konnte er sich mit
der Liebe zu einem anderen nicht entschuldigen.
Und nun lag sein Vater todkrank drunten und
wartete, wartete mit bebender Sehnsucht auf ein
gutes Wort von dem Sohn, dem er nie eine Freude
hatte versagen können, um dessentwillen er einem
Alter in Armut und Schimpf entgegenging — und
der Sohn kam nicht.
Kurt trat zur Karaffe, schenkte sich ein Glas
Wasser ein und trank es auf einen Zug hinunter.
Seine Stirne brannte. Die Kehle war ihm wie aus-

gedörrt. Daß er so lange Zeit gebraucht hatte, um
sich zu dieser Erkenntnis dnrchzuringen! Äber frei-
lich, wer zeitlebens nur gewohnt gewesen ist, an sich
selbst zn denken, dessen Phantasie wird ungeschickt,
sich in die Seele eines anderen zu versetzen.
Horch! Unten jetzt Bewegung, Schritte. — War's
schon zu spät?
Er schrie auf: „Herr Gott im Himmel, laß es
nicht zu spät sein! Was ich verloren habe heute,
Liebe, Geld uud Gut, sei verloren, aber meinen Vater
laß mich noch finden! Laß es nicht zu spät sein."
Zwei Stufen auf einmal lief er die Treppe hin-
unter. An der Tür stand der alte Diener. „Gott
sei Dank, daß Sie kommen, Herr Brunslow. Der
Herr ist so unruhig."
Kurt antwortet nicht, er drängt ins Zimmer.
Im matten Schein der verhüllten Lampe sieht er
das blasse, vor Aufregung zuckende Gesicht, die
Hände, die nicht Ruhe finden können. Beim An-
blick des Sohnes leuchten die verschleierten Augen
auf, mit dem Ausdruck der Todesangst hängen sie
an Kurts Lippen.
„Vater!" — Knrt ergreift die unruhigen Hände.
Ihm ist, als springe etwas in seiner Brust, als löse
etwas Hartes, Kaltes sich. „Mein armer, lieber
Vater!"
Die Zunge des Kranken ist schwer, kaum vermag
sie ein deutliches Wort zu formen. Kurt versteht:
„Schwer gelitten-Vergib —"
Und aus einmal kommt ein köstlicher Mut über
ihn, etwas Warmes, Freudiges, das er nie gekannt
hat: die Wonne, einmal zu geben mit vollen Hän-
den, wo er immer nur genommen hat. Er setzt sich
auf den Stuhl vor dem Bett.
„Sei ruhig, Vater, und werde nnr gesund. Für
das andere wird sich Rat finden. Ich bin jung
und kräftig. So lange hast du für mich gearbeitet,
nuu werde ich für dich arbeiten."
Brunslow senior sagt nichts mehr. Die Tränen
rinnen unaufhaltsam über seine farblosen Wangen,
aber Tränen des Glücks. Und dann kommt die
Reaktion auf die furchtbare Aufregung des Tages.
Die Hände des Sohnes fest in den seinen sinkt er
in erquickenden Schlaf.
Die ganze Nacht sitzt Knrt Brunslow an dein
Krankenbett. Und das Chaos in seinem Kopf lichtet
sich, und er sicht klar und deutlich den Weg, den er
zu gehen hat, einen rauhen Pfad und nicht mit
Blumen umsäumt, aber auch nicht zu verfehlen.
Während der nächsten Tage waren alle, die mit
dem Konkurs zu tun hatten, voll Anerkennung für
die vornehme Korrektheit in dem Verhalten des
jungen Brunslow. Nicht jeder hatte es ihm zu-
getrant. Sein Automobil, sein Reitpferd, seine
Kunstsammlungen, die Brillanten an seinen Ringen
und Krawattennadeln, seine kostbare Taschenuhr
wanderten in die Masse. Da war nicht ein Stück,
das er als sein Privateigentum in Anspruch nahm.
Wo der Konkursverwalter zweifelnd zögerte, kam
er selbst der Entscheidung zuvor.
Schon wenige Tage später wurde man Mom-
bergers samt der von ihm veruntreuten Summe hab-
haft. Die Aufregung der Verlierenden begann sich
zu legen.
Jeden Augenblick, den die geschäftlichen Ver-
handlungen ihm übrig ließen, brachte Kurt im
Krankenzimmer zu. Seine heitere Gelassenheit war
Genesung für Heinrich Brunslow, der seines Sohnes
Verzweiflung mehr gefürchtet hatte als jeden Verlust
an Geld und Gut. Nicht immer wurde es dem
jungen Mann leicht, diese Gelassenheit zu bewahre».
Jeder Tag, jede Stunde brachte ihm jetzt den Ab-
schied von etwas Liebem, Gewohntem, unentbehrlich
Geglaubtem. Von Magda Meiner kam ein Bries
voll Teilnahme, voll banger Sorge. Er wollte die
Tränenspnren nicht sehen, die hie und da die Buch-
staben verwischten. Er biß die Zähne zusammen.
Er dankte höflich, kühl. „Es war gut," schrieb er,
„daß Ihr Herz entschieden hatte, wie es entschied,
noch ehe das Schicksal hereinbrach, das uns unter
allen Umständen hätte trennen müssen."
Eines Abends kamen seine Freunde zu ihm,
Ede Gerlach und der Mephisto, wollten ihn mit sich
nehmen. „Dein Pech wird doch unsere Freundschaft
nicht zerreißen sollen! Laß das Kopfhängen, armer
Kerl! Die Welt ist rund. Sei wieder vergnügt
mit nns."
Aus Wort und Gebärden der frohen Kumpane
wehte die sorglose Lebenslust ihn an, die einst sein
Element gewesen war, ihm nötig, wie er glaubte,
gleich der Luft zum Atmen. Er kam von unerquick-
lichen Auseinandersetzungen, Heimweh ergriff ihn.
Die Versuchung war schwer.
Aber er blieb standhaft. „Ihr meint's gut,
Jungens, aber ihr wißt, ich habe mir immer auf
mein Stilgefühl etwas zn gute getan. Wie die
Dinge liegen, passe ich nicht mehr in eure Welt."
 
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