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Seite 8

Illustrierter Beobachter, Ausgabe 8

1831 / Folge 1

(Fortsetzung von Seite 2)
dem Toten folgen, wird ihm die Treue hal-
ten, wird sein Werk fortsetzen.
Und sie sank noch einmal in die Knie, voll
tapferen Glaubens und Dankbarkeit, weil
sie die Pforte gefunden hatte, durch die sie
in die neue Welt eintreten wird.
Drei Tage noch blieb sie in Köln, feierte
einsam das Fest der Auferstehung, Tage des
Grams und des neuerstandenen Lebens, der
Tränen und der Freude. Sie hielt sich fern
von den Menschen, vertiefte sich in die große
Tragödie des Lebens, in die Tragödie des
gottgewollten Boten von Nazareth, der sich
selbst der Menschheit gab, um sie über Raum
und Zeit zu erheben, und der starb für die
Befreiung des Menschengeschlechts. Und mit
heiligen Schauern sah sie ihres toten Freun-
des Lebenswerk, das sich ihren staunenden
Kinderaugen mit dem des Erlösers zu einer
Einheit verschmolz, und sie klammerte sich in
seligem Weh an die Kindschaft dieser Er-
kenntnis und gelobte noch einmal dem Ver-
mächtnis des Toten unwandelbare Treue.
Ein Telegramm ging nach Berlin.
Auf dem Bahnhof in der Hauptstadt stand
am nächsten Tage wartend ein kleiner hage-
rer Mann mit vorstehenden Backenknochen
und zwei forschenden Augen unter einer
hohen Stirn. Das war Matthesius aus der
Vülowstraße. Sein Adlerblick glitt über die
ankommenden Fahrgäste, griff in dieses und
jenes Gesicht, blieb haften auf einer schwarz
gekleideten jungen Dame. Er trat zu ihr,
nannte seinen Namen, reichte ihr die Hand
und führte sie in sein Haus, in ein Zimmer,
in dem Karten und engbeschriebene Blätter
des Hauvtmanns Wynanky ausgebreitet auf
dem Tische lagen.
„Sie sind bereit, mit mir zu arbeiten —
im Sinne Ihres verstorbenen Freundes?"
Das blaue Mädchenauge schimmerte feucht,
ein kurzes, schon im Keime ersticktes Zittern
trat auf die Lippen. Was dort auf dem
Tische lag, blickte in das bleiche Frauen-
antlitz wie Kinder der Liebe und der
Schmerzen. Der Tote stand vor ihr; sein
Blick griff in ihre Augen, in ihr Herz, lieg
sie erbeben in dem Glück, das sie mit ihm
genossen, preßte ihr Herz zusammen in der
Erinnerung an die Gefahren, die sie mit
ihm geteilt hatte, um diese Zeichnungen
und Zahlen zu bekommen.
„Das Höchste ist nicht das Leben, das
Höchste ist das Opfer."
Das Wort Wynankys, auf dem Sterbe-
lager gesprochen, klang in ihr nach, war ein
Vermächtnis, das ihr der Geliebte in seiner
Todesstunde gegeben hatte. Heiß stieg es
in Annemarie auf, deren Hände sich krampf-
haft zusammenpreßten. Der Vlutschlag der
Vorfahren meldete sich, drängte in mäch-
tigen Stößen in das Haupt, klang rauschend
im Ohr und rief: „Das höchste ist das
Opfer!" Da richtete die gebeugte Frau sich
auf und sagte mit fester Stimme: „Ich bin
bereit."
„Es geht auf Leben und Tod", erklärte
Matthesius.
„Ich kenne den Tod", erwiderte das
Mädchen gefaßt.
Die Augen des Mannes ruhten forschend
auf Annemarie, seine Hände glitten spielend
über Karten. Dann erzählte er von Wy-
nanky, von seinen Erfolgen; eine Hochach-
tung vor dem verabschiedeten Offizier, vor
dem toten Spion sprach aus jedem Wort,
und an dieser Hochachtung richtete die Frau
sich auf, ihr Blick ging prüfend über die vor
ihr liegenden Zettel, die dem Toten, als
er schon im Sarge lag, aus der Weste von

einem Oberleutnant der Kommandantur
abgenommen worden waren.
Und nun erklärte Annemarie mit bewun-
derungswerter Schärfe und Deutlichkeit:
Diese Linien sind Feldbahnen, hier sind
Gräben; jene Striche zeigen an, welche
Stellungen die Infanterie hatte, die Plan-
quadrate der Generalstabskarte sind auf den
Zetteln links oben durch Zahlen angegeben;
dies hat diese und jenes jene Bedeutung.
Matthesius nickte und staunte. Er konnte
nicht begreifen, woher das Mädchen diese
Gabe hatte. Seine Hände fuhren über Kar-
ten und weißes Papier, arbeiteten mit
Zeichenstift und Zirkel, eine neue Karte ent-
stand in stundenlanger Arbeit. Und immer
wieder ergänzte und erklärte Annemarie,
bis der Helle Tag durch die Fenster schaute.
Da war das Werk vollbracht, und der ha-
gere Mann drückte seiner Gehilfin dankbar
die Hand und bat sie, sich zur Ruhe zu
begeben.
Annemarie ging in das ihr angewiesene
Zimmer und legte sich nieder. Doch trotz der
bleiernen Müdigkeit wollte der Schlaf nicht
kommen. Sie dachte an Wynankp, wie man
ausschaut nach einer fernen Landschaft, die
in der Abendsonne aufleuchtet, und nach
einer langen Zeit nahm der Schlaf sie in
seine sanften Arme.
Am Nachmittag saß Annemarie Lesser in
Matthesius Arbeitszimmer. Dienstbücher
der französischen Armee und Karten lagen
vor ihnen. Matthesius erklärte: Dies und
das müssen Sie feststellen, — hieran liegt
uns viel. — So könnten Sie es machen.
Annemarie nickte, stellte Fragen, verwarf
diesen und jenen Rat, machte andere Vor-
schläge. Die ganze Nacht hindurch dauerte
diese Arbeit, dann war man sich einig.
Die nächsten Tage galten der Vorberei-
tung für die Reise in die Vogesen, und dann
brachte der Chef des deutschen Geheimen
Nachrichtenwesens seine Gehilfin nach dem
Bahnhofe.
Annemaries Paß mit echten Schweizer
Stempeln beurkundete, daß sie sechzehn
Jahre alt und Malstudentin aus Genf war.
Ihre zierliche Gestalt, ihr frisches, jugend-
liches Gesicht, ihre langen Zöpfe und ihre
kindliche Anmut ließen keinen Zweifel an
ihrem Mädchentum aufkommen.
In Köln unterbrach sie ihre Fahrt und
ging noch einmal nach dem Grabe des Ge-
liebten. Dort stand sie hoch aufgerichtet wie
zu Stein geworden, als hätte sie mit dem
Toten alle Harmlosigkeit der Jugend, jedes
weiche Gefühl, jedes menschliche Erbarmen
versenkt. Kein Zweifel, kein Trostbedürfnis,
keine unstete Leidenschaft hatte sie an diesen
Ort gerufen; eine feste Ruhe war in ihr, ein
glühendes Leben. Sie flehte nicht, sie
brachte ein stolzes Gelübde, das ihre Seele
erfüllte, das als eiserner Entschluß in ihr
lebte und dem ihr Leben geweiht war.
Es war ein wunderschöner Herbsttag, als
Annemarie in einem Dorfe der französischen
Vogesen eintraf. Durch ihre Liebenswürdig-
keit wurde sie bald der Liebling der kleinen
Pension. Man eiferte um die Gunst, ihr
einen Dienst erweisen zu dürfen. Die Bahn-
beamten erzählten ihr von ihrem Dienst,
Eendarme versuchten, ihr Wohlwollen zu
verdienen, und wenn sie einen Bauernhof
skizzierte, oder einen verschütteten Talgrund,
in dem das heimliche Plätschern eines Wild-
baches in die romantische Stille drang, auf
der Leinwand festhalten wollte, dann stellte
ihr der Feldhüter das Stativ auf und wurde
nicht müde, ihr von Wegen und Eisenbah-
nen und den wissenswerten Verhältnissen
an der Grenze zu erzählen.

„Und in nächster Woche haben wir hier
ein großes Divisionsmanöver!" rühmte er.
„Da können Sie was erleben!"
Manöver? Oh, wie das paßte! Da galt
es, jede Möglichkeit auszunutzen. Die Mal-
utensilien blieben von nun an in der Pen-
sion, der Photo-Apparat wurde ausgepackt,
Aufnahmen über Aufnahmen wurden
gemacht.
Als Annemarie eines Abends zurückkam,
war das Gasthaus, in dem sie wohnte, bis
zum letzten Raum belegt mit Offizieren,
die sie bald in ihre Mitte nahmen. Laut
und froh ging es her, es wurde getanzt, und
der alte, bärbeißige Kapitän räumte dem
bildhübschen Mädchen sein ganzes Herz ein.
Am späten Abend, als man sich trennte, bat
er: „Kommen Sie mit ins Feld."
„Ich darf nicht, Ivov capitata."
Da reckte der Offizier sich aus.
„Oh, mein liebes Fräulein, immer dürfen
Sie mir folgen!"
„Wie soll ich den ganzen Tag marschie-
ren können!"
Der Franzose überlegte, rief den Wirt,
und fragte: „Haben Sie Pferd und Wagen,
die Sie mir für die Manövertage zur Ver-
fügung stellen können?"
Der Wirt bejahte.
Der Offizier zog seine Geldbörse. „Für
welchen Preis?"
Da sah Annemarie ihn ernst an.
„Das dulde ich nicht. Die Verhältnisse, in
denen ich lebe, gestatten mir schon einen
Luxus."
Der Kapitän lag noch lange wach in die-
ser Nacht. Wehmütig und voll Sehnsucht
wünschte er den Morgen herbei, lauschte im
Halbschlummer auf die feine Mädchenstimme
mit dem naiven, zutraulichen Schmeicheln,
fühlte beim Tanze den schmiegsamen Frauen-
leib und den Arm, der sich in den seinigen
schlang. Und der Mann, der sonst ein grau-
samer Spötter des weiblichen Geschlechts war,
lächelte nachsichtig zu seinen Gedanken, zu
seiner Träumerei, in der ihm Gegenwär-
tiges und Zukünftiges ineinander floß. Als
er das reiche Schweizer Mädchen am Morgen
auf dem kleinen Wagen sitzen sah, fühlte er
eine warme Welle in sich aufsteigen. Er sah
die Studentin an; ein leichtes Erröten ging
über ihr Gesicht. Sie wollte, sich umsehend,
es verbergen, er aber trat an den Wagen,
reichte ihr die Hand und erkundigte sich nach
ihrem Befinden. Sie lächelte und traf ihn
mit einem Blick, der dem Offizier das Herz
Hütte stehlen können.
„Sie bleiben in meiner Nähe", sagte er.
Annemarie atmete schwer, als ob sie von
einer großen Sorge gequält würde. Und
dann beugte sie sich zu ihm hinab, und an
seinem Ohr gestand sie stockend, im Flüster-
ton: „Ich habe etwas Herzklopfen, Herr Ka-
pitän, und bitte um Ihren Schutz. Sie
wissen, die jungen Offiziere —"
Wie eine Lohe sprühte es in den Augen
des Kapitäns. Er wußte, daß er die Ge-
liebte verteidigen mußte, daß sie, die sich in
den bunten Rock verliebt hatte, begehrt
wurde von den Kameraden. — Oh, sie sollte
ganz sicher sein in seiner Hut; wie ein
Löwe würde er um sie kämpfen!
Annemarie fuhr mit ihrem kleinen Wa-
gen hinter der Truppe her. Sie lachte, daß
man sie glauben machen wollte, das, was
sie sah, sei ein Divisionsmanöver. Sie
kannte die planmäßigen Stärken der fran-
zösischen Truppenteile und stellte fest, daß
hier mehr als ein Armeekorps zusammenge-
zogen worden war.
(Fortsetzung folgt)
 
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