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Dr. Bronislaw Malinowski
Damit haben wir die Resultate unserer eingehenden Forschung zu-
sammengefaßt und eine Antwort auf die erste Frage gegeben, die wir zu
Beginn aufgerollt haben, d. h. wir haben erforscht, wie sich der Kern-
komplex mit der Konstitution der Familie wandelt und wie er
von einigen Zügen des Familienlebens und der sexuellen Moral abhängt.
Wir schulden der Psychoanalyse die Entdeckung, daß es in unserer Ge-
sellschaft eine typische Gefühlsgruppierung gibt und die teilweise, vor allem
auf der Sexualität beruhende Erklärung, weshalb ein solcher Komplex
existieren muß. In den vorangehenden Seiten konnten wir den Umriß des
Kernkomplexes einer anderen Gesellschaftsform, einer matrilinearen geben,
ein Komplextypus, mit dem man sich bisher nicht befaßt hat. Wir haben
gefunden, daß dieser Komplex sich von dem patriarchalen wesentlich
unterscheidet und haben gezeigt, warum er sich unterscheiden muß und
welche sozialen Kräfte dies bewirken. Wir haben unseren Vergleich auf
breitester Grundlage gezogen und, ohne die sexuellen Faktoren zu ver-
nachlässigen, systematisch auch die anderen Elemente einbezogen. Das
Resultat ist wichtig, den man hat bis jetzt nie vermutet, daß es einen
anderen Typus des Kernkomplexes geben könnte. Durch meine Analyse
habe ich festgestellt, daß Freuds Theorien der menschlichen Psy-
chologie nicht nur in rohen Zügen entsprechen, sondern daß
sie sich eng den Wandlungen anschließen, die die verschiedenen
Grundlagen der Gesellschaft in der menschlichen Natur hervor-
bringen. Mit anderen Worten ich habe die tiefgehende Beziehung zwischen
einem Gesellschaftstypus und seinem Kernkomplex aufgezeigt. Während
dies nun eine bemerkenswerte Bestätigung des Hauptinhaltes der Freud-
schen Psychologie ist, dürfte es uns doch zwingen einige ihrer Einzelheiten
zu modifizieren, oder besser gesagt, einige ihrer Formen dehnbarer zu ge-
stalten. Um mich konkret auszudrücken: es scheint notwendig, die Wechsel-
beziehung biologischer und sozialer Einflüsse systematischer zu untersuchen,
nicht überall die Existenz des Ödipus-Komplexes zu behaupten, sondern
jeden Kulturtypus zu studieren und den besonderen Komplex festzu-
stellen, der zu ihm gehört.
Es würde nun noch übrig bleiben, zu der Erforschung der zweiten
Frage überzugehen, die ich im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes gestellt
habe, nämlich zu prüfen, ob der matrilineare Komplex, der in seiner Ent-
stehung und seinem Wesen so verschieden vom Ödipus-Komplex ist, auch
auf Überlieferung und soziale Organisation einen verschiedenen Einfluß
ausübt, d. h. ob er diesem ein spezifisch matrilineares Gepräge gibt. Die Be-
Dr. Bronislaw Malinowski
Damit haben wir die Resultate unserer eingehenden Forschung zu-
sammengefaßt und eine Antwort auf die erste Frage gegeben, die wir zu
Beginn aufgerollt haben, d. h. wir haben erforscht, wie sich der Kern-
komplex mit der Konstitution der Familie wandelt und wie er
von einigen Zügen des Familienlebens und der sexuellen Moral abhängt.
Wir schulden der Psychoanalyse die Entdeckung, daß es in unserer Ge-
sellschaft eine typische Gefühlsgruppierung gibt und die teilweise, vor allem
auf der Sexualität beruhende Erklärung, weshalb ein solcher Komplex
existieren muß. In den vorangehenden Seiten konnten wir den Umriß des
Kernkomplexes einer anderen Gesellschaftsform, einer matrilinearen geben,
ein Komplextypus, mit dem man sich bisher nicht befaßt hat. Wir haben
gefunden, daß dieser Komplex sich von dem patriarchalen wesentlich
unterscheidet und haben gezeigt, warum er sich unterscheiden muß und
welche sozialen Kräfte dies bewirken. Wir haben unseren Vergleich auf
breitester Grundlage gezogen und, ohne die sexuellen Faktoren zu ver-
nachlässigen, systematisch auch die anderen Elemente einbezogen. Das
Resultat ist wichtig, den man hat bis jetzt nie vermutet, daß es einen
anderen Typus des Kernkomplexes geben könnte. Durch meine Analyse
habe ich festgestellt, daß Freuds Theorien der menschlichen Psy-
chologie nicht nur in rohen Zügen entsprechen, sondern daß
sie sich eng den Wandlungen anschließen, die die verschiedenen
Grundlagen der Gesellschaft in der menschlichen Natur hervor-
bringen. Mit anderen Worten ich habe die tiefgehende Beziehung zwischen
einem Gesellschaftstypus und seinem Kernkomplex aufgezeigt. Während
dies nun eine bemerkenswerte Bestätigung des Hauptinhaltes der Freud-
schen Psychologie ist, dürfte es uns doch zwingen einige ihrer Einzelheiten
zu modifizieren, oder besser gesagt, einige ihrer Formen dehnbarer zu ge-
stalten. Um mich konkret auszudrücken: es scheint notwendig, die Wechsel-
beziehung biologischer und sozialer Einflüsse systematischer zu untersuchen,
nicht überall die Existenz des Ödipus-Komplexes zu behaupten, sondern
jeden Kulturtypus zu studieren und den besonderen Komplex festzu-
stellen, der zu ihm gehört.
Es würde nun noch übrig bleiben, zu der Erforschung der zweiten
Frage überzugehen, die ich im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes gestellt
habe, nämlich zu prüfen, ob der matrilineare Komplex, der in seiner Ent-
stehung und seinem Wesen so verschieden vom Ödipus-Komplex ist, auch
auf Überlieferung und soziale Organisation einen verschiedenen Einfluß
ausübt, d. h. ob er diesem ein spezifisch matrilineares Gepräge gibt. Die Be-