Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 18.1907

DOI Artikel:
Lux, Joseph August: Die Erneuerung der Ornamentik,[1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7501#0306
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
292

INNEN-DEKORATION

auszudrücken, in der Linienführung das Wesen der Dinge zu
manifestierenund die Eigenart derkünstlerischen Empfindungs-
weise auszudrücken. Nach van de Velde hatte die ornamentale
Linie die Freiheit, nichts bedeuten zu dürfen, sondern nur
auszudrücken, was nach des Künslers individuellem Em-
pfinden in den Dingen lebte und durch die transcendentale
Liniensprache einen vollends neuen und dennoch eingeborenen
Sinn, der nur seelisch zu ergreifen ist, gab. Der ornamen-
tale Sinn, der stets Gleichnisse der organischen Naturauf-
fassung liefert, ist dem Menschen von Natur aus ein-
geboren. Jene Künstler empfanden diese Geseßmäßigkeit
neu und frisch und gelangten daher zu jener Freiheit und
Herrschaft ihrer Kräfte, die von den Vorstellungen und der
Tyrannei überlieferter Ornamente unbelastet waren. Denn
auch die überlieferten Ornamente aller Zeiten sind aus der
gleichen Geseßmäßigkeit entstanden, und was sie von uns
trennt, ist einzig und allein die häufig vertuschte Tatsache,
daß sie nicht der organische Ausdruck unseres Empfindungs-
lebens, sondern der Empfindung einer anders gearteten
vergangenen Zeit sind. Die genannten Künstler also tranken
nicht aus dem berückenden Brunnen der verschiedenen
Stilepochen, sondern sie suchten die Quellen auf und fanden
sie in ihrer eigenen menschlichen Natur. Darum kann man
von diesen Künstlern sagen, daß sie eigentlich die tiefste
künstlerische Tradition besißen, denn sie sind von denselben
Grundlagen ausgegangen, wie die
künstlerische Schöpfung zu allen
Zeiten und bei allen Völkern. Nur
ein oberflächliches Urteil kann in
der gänzlichen Verschiedenheit, die
das Schaffen dieser Künstler von
ihrer Umgebung und Vorgänger-
schaft auszeichnete, eine Traditions-
losigkeit vermeinen. Diese Auf-
fassung wird bei dem modernen
England billige Beweise suchen,
denn dort ist zu finden, was die
landläufige Meinung äußerlich als
die liebenswerte Tradition empfin-
det. Auch die Engländer von
Gabriel Dante Rossetti bis Walter
Crane gingen aus, die Quellen zu
suchen, aber sie gerieten auf der
Suche in die zaubervollen Gärten
der Früh - Renaissance, von denen
sie sich nicht mehr loszureißen
vermochten, es sei denn, daß die
Kunst des fernen Japan in den
Gesichtskreis ihres Schönheits-
suchenden Auges trat, und seither
wandeln durch die dekorativen
Entwürfe, durch die Glasfenster,
Teppiche, Gewebe, schmachtende
Frauen, mit langen, sehnsüchtigen
Blicken, exotische Vögel wiegen
sich in stilisierten Blätterranken
und ein märchentiefer Ton erzählt
von fernen Zeiten, in die wir nicht
zurück und die nicht zu uns gelangen
können. Sie sind die Romantiker
des Ornaments und mit Moritz von
Schwind geistig verwandt. Am auf-
fallendsten ist die rhythmische
Ornamentsprache in der Kunst der
Naturvölker entwickelt, die uns leicht

RTCJOTF W"1D FINFN HF MW 1VN UBL-l

zu dem Glauben verführen, daß sie ganz bewußt jenes mystische
oder abstrakte Ornament, das eine moderne Schöpfung ist,
gesucht und verwirklicht haben. Das Abstrakte des ethno-
graphischen Ornamentes besteht wohl nur für uns, da wir
die religiösen Vorstellungen und persönlichen Beziehungen
dieser Zeichen nicht zu erkennen oder zu verstehen ver-
mögen. Es ist klar, daß bei dem wenig entwickelten
geistigen Leben der sogenannten Naturvölker der sinnliche
Eindruck, den Mensch, Tier oder Pflanze hervorrief, das
Vorbild seines Ornamentes lieferte. Allein die primitive
Ausdrucksweise, der ausgesprochene Rythmus, der den
Naturmenschen in seiner Arbeit, in allen seinen Lebens-
regungen beherrscht, und ihn vorzüglich zum Ornamentiker
bestimmt, bringen als Endergebnis eine seltsame und ab-
strakt erscheinende und vom Naturvorbild schier ganz ent-
fernte Ornamentik zustande. Dazu kommt, daß dieser
natürliche Mensch, der nur nach Notwendigkeiten und nicht
nach Zwecken arbeitet, seine Ornamentik immer in organi-
scher Abhängigkeit von dem Gebrauchszweck und von der
Tektonik anbringt. Die ganze ethnographische Kunst ist
technisch, konstruktiv, ornamental. Unter der völligen
Herrschaft über die menschliche und tierische Form schien
das Ornament zu verarmen, wie in der Antike, und
der Anwendung von geometrischen Formen Plaß zu
machen, die keine nachweisbaren, symbolischen Be-
ziehungen haben, obzwar viel-
fach auch hier noch der schwache
Pulsschlag eines sehr fernen
Lebens zu verspüren ist, nament-
lich, wenn man die ornamental ge-
wordenen antiken Bauglieder auf
ihre pflanzlichen und textilen Ur-
formen zurückverfolgt. Selbst die
Gotik ist in dem ursprünglichen
volkstümlichen Sinn durchaus or-
namental. Hier ist alles Symbol.
Die Kathedrale will die Weltherr-
schaft Gottes versinnlichen, über
den Wald von Säulen wölbt sich
der Himmel mit seinen Sternen,
die Kapitale sind voll von wirren
Träumen, sinnenden Gedanken und
Erinnerungen an das Blattgerank
der Vögelbelebten Baumkronen;
die Völker begegnen sich in ihren
Heiligen und Märtyrern, die feier-
lich und ornamental auf den Posta-
menten stehen und in den Geweben
schreiten, in den Spißenbehängen,
in dem Schnißwerk und in den ge-
meißelten Hohlkehlen, zwischen
rankenden Zweigen spielen dieTiere,
die zahmen und wilden, wie im
Paradiese und der ganze Schöp-
fungsgedanke mit allen Legenden
ist in dem kirchlichen Gesamt-
werk verkörpert; troß der realisti-
schen pflanzlichen und tierischen
Naturformen ist die Wirkung in der
strengen tektonischen Gebunden-
heit vollständig ornamental. Es ist
gar kein Zweifel, daß diese Zeit ihr
Empfinden ornamental restlos zum
Ausdruck gebracht hat.

(achluss foi^t )
 
Annotationen