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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 45.1934

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Michel, Wilhelm: Lob des Schachspiels
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https://doi.org/10.11588/diglit.10796#0390
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LOB DES SCHACHSPIELS

VON WILHELM MICHEL

Alles Spiel hat einen gemeinsamen Grundgedan-
. ken: es ist Kampf; es ist ein Ringen um Sieg. Die
sogenannten Glücksspiele schalten bei diesem Ringen
um den Sieg den Anteil menschlichen Könnens ganz
oder größtenteils aus. Sie machen den Menschen zum
Spielball überpersönlicher Mächte; im Glücksspiel
spielt nicht der Mensch, sondern er läßt den Zufall,
diese Miniaturausgabe des Schicksals, mit sich spie-
len. Im eigentlichen Spiel aber tritt der Mensch als
rechter Kämpfer auf. Er setzt seine körperlichen und
geistigen Fähigkeiten ein. Er bekommt eine Waffe in
die Hand: Schläger, Speer, Ball, Scheibe, oder ein
Machtmittel andrer Art, wie Spielkarte oder Spiel-
figur, und dann entbrennt der Kampf; ein Schein-
kampf in Ansehung der Mittel, ein Wahrkampf in
Ansehung des Realwertes »Sieg«, nach dem getrachtet
wird. (Das ist der Grund, weshalb Spiel nur dann
rechtes Spiel ist, wenn es ernst genommen wird.) —
Als das königlichste aller Spiele hat sich seit grauen
Zeiten das Schachspiel behauptet, unvergleichlich
herrliches Abbild der männermordenden Feldschlacht,
ein Wunderwerk menschlichen Geistes in der Stilisie-
rung der verschiedenen »Schritte«, fähig zum Aus-
druck feinster taktischer und operativer Gedanken,
von List, Kühnheit, Opfermut, vom Schlachtengroß-

geist eines Friedrich, vom Zaudern und der Vorsicht
eines Fabius. Man hat die verschiedenen Figuren-
gruppen des Schachspiels auf die Waffengattungen
der altertümlichen Kriegsführung bezogen. Aber das
reicht nicht weit genug. Auf den Kern gesehen, stel-
len die Schachfiguren nicht nur verschiedene Trup-
pengattungen dar, sondern die verschiedenen Griffe
und Verfahren des Feldherrngeistes. Springer ist mehr
als bloß der kavalleristische Gedanke, er ist alle mög-
liche Belauerung, Plötzlichkeit und Flankierung, aller
mögliche Hinterhalt und blitzartige Überfall, er
schließt den Gedanken der Fliegertruppe, der leichten
Tanks, ja der Feldbefestigung ein. Mit dem Turm
kommt alles einher, was wuchtiger, frontaler Vorstoß
und Durchbruch ist, von den Elefantenreitern der
Perserkönige und den Hopliten Xenophons bis zu den
schweren Kampfwagen im Masseneinsatz. Kurz, was
in den Schachfiguren Gestalt gewann, sind alle mög-
lichen Schlachtmomente, alle zu Kampf und Krieg
gehörigen Seelenkräfte. Auf jedem Schachbrett steht
eine aufgebaute Psychologie des kriegführenden Men-
schen, gültig für alle Zeit, für jeden Kampf, wunder-
bares Abbild einer Wirklichkeit, die jeden Menschen,
namentlich jeden Mann, in der Tiefe angeht. Denn
Kämpfen und Siegen ist Inhalt eines jeden Lebens.

»SCHACHSPIEL« ENTW. PROF. ANGELO SCATTOL1N, AUSF. P1ETRO M1CH1ELI. - BIENNALE-VENEDIG
 
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