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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 48.1937

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Michel, Wilhelm: Kulturelle Gesundung
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https://doi.org/10.11588/diglit.10944#0404
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INNEN-DEKORATION

EINFAMILIENHAUS IN W1EN-GR1NZ1NG BLICK VOM ESSRAUM IN DEN WOHNRAUM

prägung unsres Selbsteinsatzes. Das Überlieferte muß
in einem Akt des echten Empfangens angeeignet
werden, mit stets erneuertem Dankbewußtsein, das
gewissermaßen die ganze Überlieferungskette zurück-
läuft bis zum frischen Quellpunkt der Entstehung.
Keine Form bleibt gesund, in der nicht etwas von
ihrem Entstehungsvorgang wiederholt wird!

Von hier aus rückt wieder die Leistung jener
Künstler ins Licht, die am Beginn der eigentlich mo-
dernen Möbelgestaltung standen. Sie haben mit ihren
wunderlichen Formen - man denke an frühe Ar-
beiten von Endeil, Obrist, Van de Velde, Eckmann
- viele Menschen erschreckt, gereizt, verblüfft. Es
war leicht, über sie zu lachen, denn nichts stand
deutlicher vor Augen als die Unvereinbarkeit dieser
Gebilde mit geläufigen ästhetischen Begriffen und mit
gewissen praktischen Anforderungen. Aber diese
Künstler haben viel mehr getan als Möbel und Wohn-
räume entworfen. Sie haben den menschlichen Ein-
satz in der Dinggestaltung aus unkenntlicher Ver-
schüttung wieder heraufgeholt, sie haben mit einer
Riesenanstrengung das tote Übernehmen durch-
brochen und die erste Hand gelegt an das Werk, eine
davongelaufene Ästhetik und eine davongelaufene

Technik wieder in die kulturelle Einheit zurückzu-
zwingen. Nicht nur eine erneuerte Dingwelt nahm
von daher ihren Ursprung, sondern es ging damit
ein erneuertes, gültigeres Wohnen des Menschen in
seinem ganzen Arbeitsfeld einher. Es hatte seinen
guten Grund, daß es Künstler waren, freie Künstler,
die diesen Anstoß brachten; denn allein dem Künst-
ler ist, als Zunftgeheimnis gleichsam, das Wissen
um den Menschenanteil und um das ewig »Ent-
steherische« in der Gestaltung anvertraut. So angreif-
bar ihre Programme gewesen sein mögen, das Ge-
heimnis der Erneuerung war darin eingesenkt: denn
Programme sind in der Geistesgeschichte stets nur
die Verkleidungen der Erneuerungskraft, nicht die
Kraft selbst.

Beim Blick über die heutige Gestaltenwelt, wie sie
in Wohn- und Nutzbauten, in den zahllosen Erzeug-
nissen der Gewerbe und namentlich auch im Hausrat
vor uns steht, werden wir uns der weitreichenden
Gesundung unsrer Kultur bewußt, die sich im Laufe
der letzten drei oder vier Jahrzehnte vollzogen hat.
Das Lebensgefühl der Welt, in der wir Älteren auf-
wuchsen, war von geheimen, tiefbegründeten Miß-
stimmungen durchwölkt, die sich noch heute an
 
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