Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 49.1938

DOI Artikel:
Neue Wohnform - und tiefere Bedeutung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.10945#0268
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
254

INNEN-DEKORATION

»SCHLAFZIMMER« SCHRÄNKE AUS INDISCHEM NUSSBAUM MIT TOREM IN ORANGEFARBENEM SCHLEIFLACK

NEUE WOHNFORM - UND TIEFERE BEDEUTUNG

Es gab große und herrlich durchgeformte Kulturen,
an deren Gaben nur gewisse obere Schichten der
betreffenden Völker teilnahmen. Wie hoch mag selbst
zu Perikles' Zeiten der faktische Mitgenuß des Skla-
ven oder auch des kleinen Krämers, Fischers, Last-
trägers, Eseltreibers an der hellenischen Lebensform
gewesen sein ? Er war gewiß unvorstellbar gering. Die
Tempel, die Häuser der Machthaber und der reichen
Bürger trugen Athens Bau- und Lebensform; und als
ein Narr wäre der erschienen, der etwa gepredigt
hätte, daß Athens Kultur solange nicht voll verwirk-
licht sei, als jene unteren Schichten ihr Leben in Höh-
len und elenden Lehmhütten zubrächten. Europa
kennt gleiche und schlimmere Etappen in seiner
Geschichte. Noch das 18. Jahrhundert weiß von den
französischen Königsstilen in der Wohn- und Bau-
form. Was hat der kleine Bauer, derTaglöhner, der
Knecht, der arme Handwerker von ihrem Zauber ge-
habt ? Und was lag daran, daß er nichts davon hatte ?
Zum Wesen dieser hohen, reifen Formen gehörte es
nicht, daß sie eine Realisierbarkeit bis in die untersten

Schichten bewährten. Sie konnten ihrer entraten.

Das umstürzend Neue und schlechthin Revolu-
tionäre unsrer heute erarbeiteten Wohnkultur liegt
darin, daß sie ihrem Wesen nach auf diese totale Re-
alisierbarkeit verpflichtet ist - ja, daß ihre Formen
und Grundbegriffe durch die Rücksicht auf diese
volkstotale Realisierbarkeit entscheidend bestimmt
sind. Sie entsteht nicht irgendwo »droben« und wird
dann, verbilligt und entwertet, mit charitativer Geste
dem Volk ausgeteilt, sondern sie verdankt ihr Werden
und So-sein von vornherein der Aufhebung der alten
sozialen Schichtenteilung. Wir stehen heute vor einer
Tatsache, die niemals in der Kulturgeschichte so deut-
lich gegeben war: daß kein Wohn-Ideal mehr kon-
struiert werden kann, welches irgendeine Volks-
schicht von der vollen Teilhabe ausschließt. An sich
läßt sich durchaus die Frage stellen, was denn Wohn-
schönheit und Formschönheit überhaupt mit der
Frage ihres faktischen sozialen Geltungsbereiches zu
tun hätten? Um noch einmal auf die Sklaverei zu-
rückzukommen, so vertrat Nietzsche die Ansicht, daß
 
Annotationen