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Jahrbuch für Kunstsammler — 1.1921

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Schlosser, Julius von: "Armeleutekunst" alter Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.47716#0066
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6a

Julius Schlosser

Reformation kam wirklich aus tiefstem Innern einer andersgearteten Volksseele, ist in
dieser Form im Süden undenkbar (Abb. 35).
Das Wiener Museum besitzt ein einzig köstliches, in seiner Herkunft noch nicht sicher
bestimmtes Bildwerklein, das einst in der alten Grazer Kunstkammer, später im Stift
St. Florian aufbewahrt wurde. Die alte ganz ungefähre, aber noch heute zäh haftende
Zuschreibung an den norddeutschen, in Würzburg tätigen Bildhauer Till Riemenschneider
trifft sicher nicht das Richtige; es ist eine ausgesprochen süddeutsche, vielleicht sogar
einheimisch österreichische Arbeit.
Ein jugendlich blühendes Menschenpaar tritt uns entgegen, im herben Reiz nordischen
Frühlings, jener Lieblingszeit deutscher Minnesänger. Aber dieser holde Trog entweicht,
„nichtig und flüchtig“, wie es im alten Choral heißt; das Bildwerk dreht sich um seine
Achse, und es erscheint als Kehrseite ein altes Weib in ganzer grauenvoller Nacktheit;
keine Einzelheit des zahnlos geifernden Mundes, der verrunzelten Lederhaut wird uns
geschenkt, und die Absichtlichkeit dieses Verfahrens scheidet diese Figur weit von Dona-
tellos greiser Büßerin, neben der wir sie fast als Karikatur empfinden. Es ist eine ge-
schnitzte Predigt, von der Vergänglichkeit allen schönen Scheins, die in eindringlichem
Kanzelton zur Einkehr mahnt; und so fehlen zu größerem Nachdrucke dieses noch ganz
mittelalterlichen Gebildes nicht einmal die Schmeißfliegen, die siel) noch vor der Ver-
wesung auf diesem hinfälligen Stück Mensclitums niedergelassen haben, das doch ein-
mal in Hoffart prangte wie seine Gegenbilder. Es ist noch genau die Stimmung wie die
der schönen Frau Weit alter gotischer Münster, hinten von eklem Gewürm zerfressen,
dieselbe, die sich in der Mär von den drei Toten und Lebendigen ausspricht und in
Walther von der Vogelweides ergreifenden Strophen der Heimkehr zittert:
Die Welt ist außen schöne, weiß, grün und auch rot,
Doch innen schwarzer Farbe, finster wie der Tod.
Wie weit liegt dies alles, trotz sonstiger Beziehungen, von der Sinnesweise des Italieners
Donatello ab! Kräftig die irdische Erscheinung betonend in allen ihren Auswirkungen,
nicht anders wie jener deutsche Zeit- und Kunstgenosse, ist ihm doch alles mystische
Hinausdenken in die Welt jenseits der Sinne innerlichst fremd. Der jüngere Künstler
und Nachfolger vollends, der sich in Padua an diesem strengen Erfassen der Wirklich-
keit geschult hat, geht noch einen Schritt weiter; alles kirchliche Wesen, das noch als
Hintergrund der meisten Werke des Altmeisters dasteht — selbst in buchstäblichem
Sinn seines großen Beiterbildes vor der Wallfahrtskirche des heiligen Antonius — alles
das verschwindet bei ihm, er greift in die Welt des Profanen, mit Vorliebe gerade dort,
wo es am einfältigsten und natürlichsten zugeht, ohne alle lehrhafte und moralische
Absicht. Jeder Zusammenhang mit der Kirche, die einst alle Lebensäußerungen in ihr
Bereich gezogen hatte, im gewaltigen Dombau gotisch-scholastischen Denkens, ist zer-
rissen, diese Werke sind nicht mehr für die Öffentlichkeit, sondern für das Haus des
 
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