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Jahrbuch für den Zeichen- und Kunstunterricht — 3.1907

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Des Jahrbuches siebenter Teil. Literatur
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Wunderlich, Theodor: Der Zeichenunterricht im Jahre 1905 im Lichte seiner Literatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.74115#0671
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Literatur. I. Der Zeichenunterricht im Jahre 1905.

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Es erübrigt nach der Besprechung der im Jahre 1905 erschienenen Lehrbücher Das Gedächtnis-
für den Zeichenunterricht noch, die einzelnen Zweige desselben näher zu betrachten. zeichnen.
Das Gedächtniszeichnen, das schon vor der jüngsten Zeichenreform als sehr be-
deutungsvoll angesehen wurde, wird heute vielfach überschätzt, und es erheben
sich Stimmen, die davor warnen21). Das Gedächtniszeichnen, zu dem auch die
zeichnende Beschäftigung der Kinder im vorschulpflichtigen Alter zählt, soll ein Aus-
drucksmittel sein, durch welches die Kinder ihre Gedanken ebenso wiederzugeben
versuchen wie durch die Sprache22). Dr. A. Görland sagt in seinem schon an-
geführten Vortrage: „Man müßte bedauern, wenn durch die falsche Etiquette, die
diesem malenden Zeichnen von seinen energischen Förderern, den „Reformern"
gegeben wurde, das tiefe Interesse, das ihm zweifellos zu widmen ist, in eine falsche
Richtung käme. Nicht das „Kind als Künstler" sollte in diesen Bildchen gesucht
werden, sondern „das Kind als Sprach- und Begriffsbildner". Denn einerseits er-
gänzt das Kind in diesen Bildern sein sprachliches Äußerungsvermögen. Zugleich
aber werden ihm seine Bilder zu räumlichen Definitionen. Der Tisch, den das Kind
uns verständlich machen will, indem es ihn hinmalt, ist ein Schema, das graphische
Schema des Begriffes „Tisch", den es sprachlich noch nicht geläufig definieren kann.
Es empfindet nicht den zeichnerischen Mangel an diesem graphischen Begriffs-
schema, da es nicht das individuelle Bild eines individuellen Gegenstandes ist.
Denn sein Begriffs- und Sprachvermögen steht auf der Stufe sehr umfangreicher
und darum noch inhaltarmer Begriffe; es erfaßt das Individuum, seinem Begriffs-
vermögen entsprechend, nur aus Interesse für die Gattung. Damit aber hört das
„malende Zeichnen" auf, einer Methodik des Zeichenunterrichtes zu unterstehen.
Auch lehnt das Kind auf dieser Stufe die zeichnerische Kritik ab, weil es nur er-
zählen d. h. wie sonst an Wörtern so hier an graphischen Schemata sich äußern
will." Hiermit stimmt S. Levinstein23) überein: „Das Zeichnen ist eine Sprache
des Kindes. Die Fähigkeit in Bildern zu erzählen steigt bis zur Pubertät. Dann
verliert sie sich, da das Kind das Ich-Bewußtsein gewinnt und sich nicht lächerlich
machen will. Das ist der Zeitpunkt, in welchem Malen dem Menschen als Sprache
verloren geht, weil er sie von selbst nicht mehr übt. Die Entwicklung des Malens
ist der Sprachentwicklung sehr ähnlich, geht derselben jedoch im jüngeren Alter
voraus." Während Dr. Görland streng geschieden wissen will zwischen dem
malenden Zeichnen und dem Zeichnen als eigentlichen Unterrichtsgegenstand, be-
fürwortet Levinstein eine Verschmelzung. Görland hebt ausdrücklich hervor,
wie das malende Zeichnen der Kinder sich nach zwei verschiedenen Seiten hin
weiter entfaltet. „Die Zeichnung soll einerseits das zu zeichnende Abbild des indi-
viduellen Gegenstandes werden. Das Zeichnen wird in seiner Kraft erkannt, die
es über das Begriffliche erhebt, insofern es den individuellen Gegenstand in sicherem
Abbild erhalten kann. Mit diesem zeichnerischen Interesse am individuellen Gegen-
stände beginnt die Methodik des Zeichenunterrichts, soweit das Bildzeichnen in
Frage steht. Der andere Zweig, der sich aus dem malenden Zeichnen entwickelt,
erhält sich in dem Charakter seines Ursprungs, einen Gegenstand nach seiner
Gattungsbedeutung graphisch zu entwerfen, ein Raumschema des Gattungsbegriffes
dieses Gegenstandes zu geben. Das ist die Art, wie wir im physikalischen Unter-
richt skizzieren, im botanischen Unterricht Diagramme von Blüten zeichnen, in der
Technik Arbeitsskizzen entwerfen. Es ist das, dem Nebeneinander des Raumes zu
dankende, verkürzte und doch sichere Verfahren, Begriffe zu definieren. Es ist
daher auch, wie in seiner Urform der Kinderzeichnung, das sichere Mittel der Kon-
trolle über die Begriffe Klarheit im Geiste des Schülers und damit ein pädagogisches
neuen bewährten Methode von Franz Kiefhaber. Vortrag, gehalten am
18. November 1905 in der Zeichensektion des Berliner Lehrervereins. Goslar,
Lattmann.
21) 0.Müller, Das Phantasiezeichnen bei den Kleinen. D. Bl. Zeh.
K. U. Jg. X. S. 147—149.
22) T h. Wunderlich, Das Zeichnen als Sprache. Z. Zeh. K. U.
Jg. XXXII. S. 9—11, 27—28, 62—68.
23) S. Levinstein, Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebensjahr.
MitParallelenaus derUrgesehichte, Kulturgeschichte undVölker-
kunde. Leipzig, Voigtländer. 8 Mk.
 
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