Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 30.1911-1912

DOI Heft:
I. Teil: Abhandlungen
DOI Artikel:
Kristeller, Paul: Zwei dekorative Gemälde Mantegnas in der Wiener kaiserlichen Galerie
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6177#0041
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zwei dekorative Gemälde Mantegnas in der Wiener kaiserlichen Galerie. 3 I

Fig. 3. Andrea Mantegna, Oberer Teil des Freskogemäldes: Die Verurteilung des heil. Jakobus.

Padua, liremitanikirche.

die Gestaltung der Kunstform einzuwirken. Es hebt das Zeitalter der Rekonstruktion nach der Antike
an, in dem man die Trümmer sammelt, studiert, mißt und in der Nachahmung zu neuen, ganzen
Gebilden zusammenzusetzen sich bemüht, bis man sich die Formen der Antike so vollkommen ange-
eignet hat, daß man in ihrem Charakter selbständig zu gestalten imstande ist. Charakteristisch ist
z.B., daß die Frührenaissance in den Hintergründen meist Ruinen antiker Gebäude darstellt, die Hoch-
renaissance dagegen rekonstruierte oder im Geiste der Antike konzipierte architektonische Bildungen ein-
zufügen liebt.

Als eine bedeutungsvolle Tatsache muß hervorgehoben werden, daß Lionardo da Vinci, der größte
der Quattrocentisten, von der Antike so gut wie ganz unberührt geblieben ist. Unter der großen Zahl
seiner erhaltenen Zeichnungen — von den Gemälden ganz zu schweigen — wird man vergeblich selbst
nach einer Erinnerung an die Antike suchen.1 In seinem gesamten literarischen Nachlasse ließen sich
zur Not zwei ganz gelegentliche, allgemeine Bemerkungen auf die Antike beziehen. 2 Lionardo betont
ja auch oft genug, daß der Künstler sich nur die Natur zum Vorbilde nehmen müsse, daß er ein Sohn,
nicht ein Enkel der Natur zu sein sich bemühen solle. Man beachte auch, daß das Quattrocento an der
antiken Kunst vor allem ihre von den alten Schriftstellern überlieferte Fähigkeit der täuschenden Nach-
ahmung der Natur bewunderte und gerade hierin, auch ohne Vorbilder, es ihr gleichzutun strebte. 3

Mantegna, der von den früheren Anschauungen in die neuen hinein alt geworden ist, spiegelt in
seinen Werken jene Wandlung des Verhältnisses der Quattrocentokunst zur Antike wieder. Wohl be-
herrscht ihn sein Leben lang der Enthusiasmus für die Antike, der glühende Wunsch, den ruhmreichen
Alten gleichzukommen in der Größe der Leistungen und der Ehren; aber die Stellung des jungen
Künstlers zur Antike ist eine ganz andere als die des reifen und des alternden Meisters. Gerade seine
frühesten Werke, in denen man seit Vasari bis heute fast nichts als eine Nachahmung antiker Statuen

1 Mit Unrecht hat Müller-Walde (Jahrbuch der kgl. preußischen Kunstsammlungen XVIII [1897], S. 143 ff.) in einer
nackten Figur von minimalen Dimensionen eine Nachahmung des Praxitelischen Sauroktonos sehen zu können gemeint. Auch
von anderen Forschern (S. Frida Schottmüller in Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. XXI [19:0], S. 141 ff.) behauptete
Beziehungen von Werken Lionardos zur Antike scheinen mir wenig überzeugend. Vereinzelte Darstellungen antiker oder
antikisierender Gegenstände, selbst vereinzelte Obereinstimmungen der Formen würden hier auch gegen die These der Unab-
hängigkeit Lionardos von der Antike gar nichts beweisen.

2 S. Richter, Literary works of Leonardo da Vinci I, p. 244. Die Antwort auf die Frage, die Lionardo hier aufwirft:
«Qual c meglio o ritrare di naturale o di antico»? läßt sich im Sinne des Meisters aus der zweiten, sich an diese erste an-
schließenden: «o qual e piu fatica o i proffili o l'ombra e lumi?» leicht und sicher geben. Wie er das Chiaroscuro ohne
Zweifel für wichtiger und schwieriger gehalten hat als die Profilzeichnung, so wird er auch der Wiedergabe der Natur vor
der alter Kunstwerke den Vorzug gegeben haben, wobei noch sehr zweifelhaft bleiben muß, ob Lionardo unter «antico»
überhaupt die griechisch-römische Kunst und nicht vielmehr die alten italienischen Meister der Vor- und Frührenaissance
(Masaccio u. a.) verstanden habe.

3 Sehr richtig sagt Gottfried Kinkel (Mosaik zur Kunstgeschichte, S. 396): «Man sieht, die Antike ist in Italien schnell
in die Literatur, sehr langsam in die Malerei eingedrungen.»
 
Annotationen