MITTELHOCHDEUTSCHE DICHTUNGEN AUF WIRKTEPPICHEN
DES XV. JAHRHUNDERTS.
Von
Betty Kurth.
m
ie spätmiftelalterlichen deutschen Bildwirkereien bieten ein vielfach noch un-
erforschtes Material seltener Illustrationszyklen. Neben den Miniaturen illustrierter
Handschriften und den Holzschnitten der Inkunabeldrucke sind vornehmlich sie
es, die uns in liebevoller Detailschilderung, in breiter Gegenständlichkeit und doch
anschaulicher Prägnanz die Legende der Heiligen, mittelalterliche Dichtungen und
Allegorien, Spiele und Vergnügungen der vornehmen Gesellschaft in Bildern vor
Augen führen und uns so die Kenntnis eigenartiger Kulturformen des späteren
Mittelalters überliefern. Ich erinnere hier, um aus der Fülle des Materials einzelne charakteristische
Beispiele herauszugreifen, nur an die weitschweifigen illustrativen Erzählungen der seltenen Legenden
der Heiligen Odilia und Atala auf den Teppichen in StralSburg1, des heiligen Adelphus auf den Bild-
wirkereien in Neuweiler,2 — an die ungewöhnlich ausführlich dargestellte Legende der Susanna
auf einem Teppich im Berliner Kunstgewerbe-Museum; oder an die episch breite Schilderung der Le-
genden des heiligen Sebaldus und der heiligen Katharina auf den Teppichen in S. Sebald 3 und S. Lo-
renz zu Nürnberg. Rudolf von Ems' Dichtung «Wilhelm von Orlens» wird uns auf einem Teppich in
Sigmaringen,4 der wie die meisten seiner Art von gesprächigen Spruchbändern erläutert wird, in Illu-
strationen erzählt und die seltene Darstellung der Geschichte von Heinrich dem Löwen begegnet uns
auf einem Teppich im historischen Museum zu Basel.5 Ganz zu geschweigen der zahlreichen Textil-
werke, auf denen uns allegorische Darstellungen,6 wilde Leute,7 Jagd- und Liebesszenen,8 Spiele und
gesellige Unterhaltung 9 in volkstümlicher Anschaulichkeit vorgeführt werden.
Es ist mir nun, wie ich glaube, gelungen, die literarischen Vorlagen für die Illustrationen zweier
wichtiger spätgotischer deutscher Bildteppiche festzustellen, die bisher nicht gedeutet werden konnten.
Während bei dem einen die Deutung auf Grund des einzigen bisher aufgefundenen Fragmentes
mit voller Sicherheit zu erkennen war, wurde sie bei dem andern, den ich zunächst besprechen will,
erst ermöglicht, nachdem ich mit Hilfe stilistischer Indizien die unmittelbare Zusammengehörigkeit von
vier in Museal- und Privatbesitz zerstreuten Fragmenten konstatiert hatte. Mit der Feststellung des
textlichen Vorbildes war zwar die topologische Folge dieser Bruchstücke bestimmt; doch ergab die Re-
1 Eugene Müntz, Trois tapisseries alsaciennes: Revue Alsacienne illustree 1908, fasc. I, IV.
2 Ibidem, fasc. IV.
3 Friedr. Wilh. Hoffmann, Die Sebalduskirche in Nürnberg, Wien 1912, S. 200 ff.
4 F. A. Lehner, Fürstlich Hohenzollernsches Museum in Sigmaringen. Verzeichnis der Textilarbeiten, Nr. 3. — Eine un-
genügende Abbildung in Hefner-Alteneck, Kunstwerke und Gerätschaften des Mittelalters und der Renaissance, Bd. III, Taf. 3, 4,
5 Jules Guiffrey, Les tapisseries du XII« ä la fin du XVIe siecle: Histoire generale des Arts appliques ä l'lndustrie.
Tome VT, Paris s. d., Fig. 21.
6 Wie z. B. der Kampf der Tugenden und Laster auf einem Teppich im Rathaus zu Regensburg.
'" Auf zahlreichen Teppichen in allerlei Beschäftigungen wie Ackerbau, Spiel, Kampf, Jagd etc.
8 Teppiche in der Sammlung von Basel, im kunsthistorischen Hofmuseum zu Wien u. a. m.
9 Auf Teppichen im Germanischen Museum zu Nürnberg, im Berliner Kunstgewerbe-Museum etc.
XXXII. 3l
DES XV. JAHRHUNDERTS.
Von
Betty Kurth.
m
ie spätmiftelalterlichen deutschen Bildwirkereien bieten ein vielfach noch un-
erforschtes Material seltener Illustrationszyklen. Neben den Miniaturen illustrierter
Handschriften und den Holzschnitten der Inkunabeldrucke sind vornehmlich sie
es, die uns in liebevoller Detailschilderung, in breiter Gegenständlichkeit und doch
anschaulicher Prägnanz die Legende der Heiligen, mittelalterliche Dichtungen und
Allegorien, Spiele und Vergnügungen der vornehmen Gesellschaft in Bildern vor
Augen führen und uns so die Kenntnis eigenartiger Kulturformen des späteren
Mittelalters überliefern. Ich erinnere hier, um aus der Fülle des Materials einzelne charakteristische
Beispiele herauszugreifen, nur an die weitschweifigen illustrativen Erzählungen der seltenen Legenden
der Heiligen Odilia und Atala auf den Teppichen in StralSburg1, des heiligen Adelphus auf den Bild-
wirkereien in Neuweiler,2 — an die ungewöhnlich ausführlich dargestellte Legende der Susanna
auf einem Teppich im Berliner Kunstgewerbe-Museum; oder an die episch breite Schilderung der Le-
genden des heiligen Sebaldus und der heiligen Katharina auf den Teppichen in S. Sebald 3 und S. Lo-
renz zu Nürnberg. Rudolf von Ems' Dichtung «Wilhelm von Orlens» wird uns auf einem Teppich in
Sigmaringen,4 der wie die meisten seiner Art von gesprächigen Spruchbändern erläutert wird, in Illu-
strationen erzählt und die seltene Darstellung der Geschichte von Heinrich dem Löwen begegnet uns
auf einem Teppich im historischen Museum zu Basel.5 Ganz zu geschweigen der zahlreichen Textil-
werke, auf denen uns allegorische Darstellungen,6 wilde Leute,7 Jagd- und Liebesszenen,8 Spiele und
gesellige Unterhaltung 9 in volkstümlicher Anschaulichkeit vorgeführt werden.
Es ist mir nun, wie ich glaube, gelungen, die literarischen Vorlagen für die Illustrationen zweier
wichtiger spätgotischer deutscher Bildteppiche festzustellen, die bisher nicht gedeutet werden konnten.
Während bei dem einen die Deutung auf Grund des einzigen bisher aufgefundenen Fragmentes
mit voller Sicherheit zu erkennen war, wurde sie bei dem andern, den ich zunächst besprechen will,
erst ermöglicht, nachdem ich mit Hilfe stilistischer Indizien die unmittelbare Zusammengehörigkeit von
vier in Museal- und Privatbesitz zerstreuten Fragmenten konstatiert hatte. Mit der Feststellung des
textlichen Vorbildes war zwar die topologische Folge dieser Bruchstücke bestimmt; doch ergab die Re-
1 Eugene Müntz, Trois tapisseries alsaciennes: Revue Alsacienne illustree 1908, fasc. I, IV.
2 Ibidem, fasc. IV.
3 Friedr. Wilh. Hoffmann, Die Sebalduskirche in Nürnberg, Wien 1912, S. 200 ff.
4 F. A. Lehner, Fürstlich Hohenzollernsches Museum in Sigmaringen. Verzeichnis der Textilarbeiten, Nr. 3. — Eine un-
genügende Abbildung in Hefner-Alteneck, Kunstwerke und Gerätschaften des Mittelalters und der Renaissance, Bd. III, Taf. 3, 4,
5 Jules Guiffrey, Les tapisseries du XII« ä la fin du XVIe siecle: Histoire generale des Arts appliques ä l'lndustrie.
Tome VT, Paris s. d., Fig. 21.
6 Wie z. B. der Kampf der Tugenden und Laster auf einem Teppich im Rathaus zu Regensburg.
'" Auf zahlreichen Teppichen in allerlei Beschäftigungen wie Ackerbau, Spiel, Kampf, Jagd etc.
8 Teppiche in der Sammlung von Basel, im kunsthistorischen Hofmuseum zu Wien u. a. m.
9 Auf Teppichen im Germanischen Museum zu Nürnberg, im Berliner Kunstgewerbe-Museum etc.
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