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Friedrich Winkler.
anheftung angewendet wurde. Innerhalb des Kreises, den die Menschenmauer bildet, ist die Schar
der Klagenden mit Maria und Johannes um das Kreuz versammelt. Die Gruppierung ist ganz frei
von jeglicher Schablone, spricht jedem Versuch, sie ikonographisch mit anderen Darstellungen zu-
sammenzubringen, Hohn. Maria blickt schmerzlich fragend zum Kreuz hinauf, Johannes ist, das
Haupt bekümmert zur Seite geneigt, am Kreuze hingesunken. Das Figurenschema, das wir ebenso
treu von Rogier wie von Bouts
und Memling beobachtet fin-
den, wo Johannes die ohn-
mächtige Maria stützen muß,
wo eine Magdalena klagend
zum Kreuz sich wendet, wo
die Kriegsleute und Zuschauer
in weitem Bogen hinter dem
Kreuze stehen, die drei Kreuze
selbst streng symmetrisch pa-
rallel zur Bildfläche aufgestellt
sind, hatte keine Gewalt über
unseren Künstler. Er offenbart
eine Beredsamkeit in der Schil-
derung der Personen, die bei
einem Meister jener Zeit ganz
ungewöhnlich ist. Hervorra-
gend charakterisiert sind be-
sonders die drei Personen vorn
links. Welche Spannung liegt
in dem Körper des vom Rücken
gesehenen bärtigen Mannes,
dessen Blick an den Lippen
Christi hängt! Uber den jun-
gen schlanken Mann neben
ihm ist es plötzlich wie eine
Erleuchtung gekommen, die in
die Höhe fahrende Hand ver-
rät seine Betroffenheit. Ganz
anders verhält sich sein nur
im Profil sichtbarer Nachbar.
Die Haltung ist äußerlich ru-
hig, aber der Blick, den er
zum Kreuze sendet, zeugt von
innerer Rührung und Mit-
leid. Alle Äußerungen und
Gesten sind bei diesem Künstler von einer vornehmen Zurückhaltung, nirgends herrscht krei-
schender, zügelloser Jammer. Und über all diesem ausgegossen die Pracht schimmernder hell-
ster Farben!
Außer diesen vier Bildern bekam der Meister die Illustration der Gebete an einzelne Heilige
in Auftrag, eine textlich und künstlerisch in sich geschlossene Gruppe (fol. 116 —125). Er setzte
hier vor jedes Gebet ein Bild des betreffenden Heiligen, etwa acht Zeilen hoch (Fig. 6). Die Um-
rahmung der Seiten zeigt den Stil jener der Kreuztragung. Farben und Figuren sind vollkommen
jene der großen Bilder.
Fig. 5. London, British Museum, Add. Ms. 35313, Fol. 28',
Friedrich Winkler.
anheftung angewendet wurde. Innerhalb des Kreises, den die Menschenmauer bildet, ist die Schar
der Klagenden mit Maria und Johannes um das Kreuz versammelt. Die Gruppierung ist ganz frei
von jeglicher Schablone, spricht jedem Versuch, sie ikonographisch mit anderen Darstellungen zu-
sammenzubringen, Hohn. Maria blickt schmerzlich fragend zum Kreuz hinauf, Johannes ist, das
Haupt bekümmert zur Seite geneigt, am Kreuze hingesunken. Das Figurenschema, das wir ebenso
treu von Rogier wie von Bouts
und Memling beobachtet fin-
den, wo Johannes die ohn-
mächtige Maria stützen muß,
wo eine Magdalena klagend
zum Kreuz sich wendet, wo
die Kriegsleute und Zuschauer
in weitem Bogen hinter dem
Kreuze stehen, die drei Kreuze
selbst streng symmetrisch pa-
rallel zur Bildfläche aufgestellt
sind, hatte keine Gewalt über
unseren Künstler. Er offenbart
eine Beredsamkeit in der Schil-
derung der Personen, die bei
einem Meister jener Zeit ganz
ungewöhnlich ist. Hervorra-
gend charakterisiert sind be-
sonders die drei Personen vorn
links. Welche Spannung liegt
in dem Körper des vom Rücken
gesehenen bärtigen Mannes,
dessen Blick an den Lippen
Christi hängt! Uber den jun-
gen schlanken Mann neben
ihm ist es plötzlich wie eine
Erleuchtung gekommen, die in
die Höhe fahrende Hand ver-
rät seine Betroffenheit. Ganz
anders verhält sich sein nur
im Profil sichtbarer Nachbar.
Die Haltung ist äußerlich ru-
hig, aber der Blick, den er
zum Kreuze sendet, zeugt von
innerer Rührung und Mit-
leid. Alle Äußerungen und
Gesten sind bei diesem Künstler von einer vornehmen Zurückhaltung, nirgends herrscht krei-
schender, zügelloser Jammer. Und über all diesem ausgegossen die Pracht schimmernder hell-
ster Farben!
Außer diesen vier Bildern bekam der Meister die Illustration der Gebete an einzelne Heilige
in Auftrag, eine textlich und künstlerisch in sich geschlossene Gruppe (fol. 116 —125). Er setzte
hier vor jedes Gebet ein Bild des betreffenden Heiligen, etwa acht Zeilen hoch (Fig. 6). Die Um-
rahmung der Seiten zeigt den Stil jener der Kreuztragung. Farben und Figuren sind vollkommen
jene der großen Bilder.
Fig. 5. London, British Museum, Add. Ms. 35313, Fol. 28',